© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Rufe nach mehr Einfluß
Migrantenvereine: Netzwerkbildung soll zu mehr politischer Mitsprache führen
Christian Schreiber

Als die Koalitionsverhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen scheiterten, meldete sich eine Lobbygruppe zu Wort, die es verstärkt in die Öffentlichkeit zieht. Die Migrantenverbände in der Bundesrepublik kündigten eine bessere Vernetzung an, um ihre Anliegen stärker positionieren  zu können. Gerade in bezug auf mögliche Koalitionsverhandlungen sei es wichtig, klar zu formulieren, wie sich Migranten „Deutschland als Einwanderungsgesellschaft vorstellen“, teilte die Initiative DeutschPlus in einem Brief an die Verhandlungsführer mit. 

Darin forderte sie unter anderem die Einrichtung eines Ministeriums für Migration. „Vielfalt und Integration“ sollten zudem als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden. Es sei ein „unerträglicher Zustand“, daß 22,5 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte hätten, „aber nur ein Bruchteil dieser Menschen in Parteien, in öffentlichen Verwaltungen und Institutionen, in Universitäten, Unternehmen, Kunst, Kultur und Medien sichtbar ist“, zitierte die Deutsche Presse-Agentur aus dem Schreiben. 

Strukturelle Förderung durch Bundesministerium 

Als Folge der jahrzehntelangen Einwanderung haben sich immer mehr Gruppen und Netzwerke gegründet, die einen stärkeren Einfluß von Migranten auf das öffentliche Leben fordern.

Eines davon ist das im September 2015 gegründete „Netzwerk von Migrantenorganisationen“ (NeMO). Der „herkunfts- und kulturübergreifende“ Bundesverband ist der Dachverband von elf regionalen Verbänden von Migrantenorganisationen in sieben Bundesländern. Insgesamt, so NeMO nach eigenen Angaben, sind dort über 400 Einzelorganisationen vernetzt. Unterstützt wird das Netzwerk vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Es ist einsevon sieben Migrantenorganisationen, deren Erfolge das Bamf nicht nur sichern, sondern deren Professionalisierung auch vertiefen will. Sie übten eine „wichtige Scharnierfunktion zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft“ aus, bündelten zudem Engagement, Migrationserfahrung und Kompetenzen in der Integrationsarbeit vor Ort. Neben NeMO werden der Bund der Spanischen Elternvereine in Deutschland, die  Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in der Bundesrepublik Deutschland (Bagiv), der Bundesverband Russischsprachiger Eltern, die Föderation der Türkischen Elternvereine in Deutschland, der Kroatische Weltkongreß in Deutschland und die Türkische Gemeinde in Deutschland strukturell gefördert.

Der Vorstand des Bundesverbandes NeMO, Ümit Kosan, macht keinen Hehl aus seinen Interessen: Bereits vor der Bundestagswahl forderte er, Geflüchteten in Deutschland eine Perspektive zu geben: „Wir reden über Menschen, die in unserem Land Zuflucht gefunden haben. Sie sind da und bereichern unser Leben im Alltag in der Stadtgesellschaft – und sie werden die Zukunft unseres Landes mitgestalten. Wir lassen nicht zu, daß sie für parteipolitische Interessen und Stimmenfang instrumentalisiert werden“, sagt Kosan, der zugleich Geschäftsführer des Verbundes sozial-kultureller Migrantenvereine Dortmund und der gemeinnützigen Gesellschaft für interkulturelle Dienstleistungen mbH (gGID mbH) ist. 

Aus Sicht der Verbände benötigt Deutschland unbedingt ein neues Einwanderungsgesetz. Das bestehende Gesetz zur Zuwanderung sei „nicht nur nicht ausreichend, sondern so kompliziert, daß es kaum durchschaubar“ sei. Die Ansätze zur interkulturellen Öffnung in Deutschland seien zwar begrüßenswert, aber der interkulturelle Umbau dürfe keine „kosmetische Operation“ sein. Ziel müsse eine gerechte „Repräsentation der Gesamtgesellschaft sein“, mit allen Facetten. Zusätzlich brauche es gesetzliche Standards gegen Diskriminierung und Rassismus.

„Rassismus und Diskriminierung ächten

Besonders der Bundestagseinzug der AfD treibt die Migranten-Verbände um. „Wir haben das Gefühl, daß der Parteienstreit über Zuwanderung komplett ohne sie geführt wird. Auch bei den nun gescheiterten Sondierungen für eine Jamaika-Koalition haben vor allem weiße Männer über 50“ darüber diskutiert, wie Deutschland regiert werden solle, kritisierte Ferda Ataman.

 Sie ist Journalistin und Mitgründerin der „Neuen deutschen Medienmacher“ und Sprecherin der „Neuen Deutschen Organisationen“, einem weiteren Netzwerk von mehr als 100 Vereinen und Initiativen, die sich bundesweit nach eigenen Angaben für die „Akzeptanz von Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe“ einsetzen: „Die AfD ist und bleibt eine islam- und flüchtlingsfeindliche Partei mit Rassisten in den vorderen Reihen und – seit ihrem Wahlerfolg – einigen handfesten Rechtsextremisten in den hinteren Reihen“, schrieb die Journalistin in einem Beitrag für den Spiegel. In ganz Deutschland fänden sich mittlerweile Initiativen von Menschen aus Einwandererfamilien und „People of Color, die sich nicht mehr als Migranten bezeichnen lassen wollen“, zusammen, heißt es. 

Bei dem gemeinnützigen Verein handelt es sich nach eigener Darstellung, um „ein ressourcen-basiertes Kompetenznetzwerk, das interdisziplinär ausgerichtet ist und Akteure aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und der Zivilgesellschaft vereint“. Man setze sich für die Wertschätzung und Akzeptanz unterschiedlicher Identitäts- und Lebensentwürfe, Chancengleichheit, Teilhabemöglichkeiten und ein gesellschaftliches Klima ein, das entschlossen jegliche Diskriminierung verurteile: „Wir wollen den Diskurs in Deutschland zu Migrations- und Integrationsthemen von einem stark defizitorientierten Diskurs hin zu einem chancenorientierten Ansatz beeinflussen“, heißt es selbstbewußt. Angaben zur Finanzierung bleiben vage: „Mit Hilfe von Mitgliedsbeiträgen und Fördermitteln und sehr viel ehrenamtlichem Engagement sei es gelungen, innovative und nachhaltige Projekte, Kampagnen und Programme zu entwickeln.“ 

Gründer und Vorsitzender von DeutschPlus ist Farhad Dilmaghani, ein ehemaliger Berliner Staatssekretär, der allerdings nach 13 Monaten aus dem Amt entlassen wurde. Der SPD-Mann habe wenig Kenntnis über Verfahrensabläufe gehabt, was zu einem „Konglomerat von Verschleiß und Angst“ auch bei erfahrenen Verwaltungsexperten geführt habe. Aus der Wirtschaft mehrten sich Stimmen, die von „chaotischen Verhältnissen“ in der Verwaltung sprachen. Seiner Popularität innerhalb der Migrantenlobby tat dies aber keinen Abbruch. Neben ihm bilden rund 25 ehrenamtliche aktive Vereinsmitglieder wie beispielsweise Naika Foroutan,  Johannes Eichenhofer oder Klaus Bade den Lenkungskreis von DeutschPlus. 

Foroutan leitet seit 2011 die Forschungsgruppe „Junge islambezogene Themen in Deutschland“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und leitet dessen Arbeitsbereich „Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik“. Im Juni 2015 wurde sie durch die Humboldt-Universität zur Professorin für „Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik“ berufen, hat folglich freien Zugang zu Fördertöpfen der Wissenschaft. 

Eichenhofer ist ebenfalls an einer Hochschule aktiv und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte der Universität Bielefeld. Nach dem Jura-Studium  promovierte er mit der Arbeit „Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz.“  Der mittlerweile emeritierte Hochschullehrer Bade war Sprecher des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Bade äußerte sich in der Öffentlichkeit des öfteren kritisch zum Verhalten der Politik und der Medien in der Integrationsfrage und der vom ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin ausgelösten Migrationsdebatte. 

Die wissenschaftliche Riege ist sozusagen der Think Thank des  NeMo-Netzwerkes. „Der Bundesverband bietet seinen Mitgliedern eine Plattform des Austausches und der bundesweiten Vernetzung sowie Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen“, heißt es. Als Bundesverband sei er auch Ansprechpartner für Politik und Zivilgesellschaft sowie Berater bei Fragen zu Integrationspolitik, Teilhabe, Entwicklungspolitik und Antirassismus.  

Dabei ist man bei der Wahl der Bündnispartner nicht immer sehr wählerisch. Vor rund einem Jahr trafen sich mehr als 50 bundesweit aktive Migrantenorganisationen, „um die interkulturelle Öffnung von Institutionen und Organisationen voranzutreiben.“ 

Heraus kam ein Positionspapier, das neben NeMo und DeutschPlus der Zentralrat der Muslime in Deutschland sowie Vertreter von Ditib, der größten Islam-Dachorganisation in Deutschland mit mehr als 900 Moscheegemeinden, unterzeichnet haben. Sie fordern, daß dem Beispiel des Nationalen Ethik­rats folgend auf Bundesebene ein „Nationaler Rat zur interkulturellen Öffnung“ – unter Beteiligung von „Migrantinnenorganisationen“ – etabliert werden solle. „Interkulturelle Öffnung bedeutet auch, Rassismus und Diskriminierungen nachdrücklich zu ächten und zu sanktionieren“, heißt es dort. Um „institutionellen Rassismus“ zu bekämpfen, müsse eine „interkulturelle Öffnung“ auch bei den Trägern der freien Wohlfahrtspflege, in Bürgerämtern, Schulen, Schulverwaltungen, Kindertagesstätten und bei der Polizei sichergestellt werden.

Vom Juniorpartner zum politischen Akteur?

 Vor allem aber ist NeMO es leid, lediglich eine Scharnierfunktion bei Integrations- und Flüchtlingsfragen auszuüben. „Dadurch, daß wir uns in den verschiedenen Arbeitsfeldern weiter professionalisieren und in Netzwerken zusammenschließen, können wir diese Rolle verlassen“, erklärte die NeMO-Vorstandsbeisitzerin Dilek Boyu auf einer bundesweiten Netzwerk-Dialogkonferenz „Vom Juniorpartner zum gleichberechtigten Akteur“ Ende November in der Berliner Kulturbrauerei. Hier stellte NeMO, das sich die Stärkung der Aktiven aus Migrantenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit auf die Fahne geschrieben hat, Wissenschaftlern, Integrationsbeauftragten aus Bund, Ländern und Kommunen und Vertretern der etablierten Wohlfahrtsverbände die Ergebnisse seines Modellprojektes samo.fa vor. „Der lange Sommer des Willkommens ist vorbei“, betonte Kosan. „Sein Erbe müssen wir gegen den erstarkenden Rechtspopulismus verteidigen, denn Flucht und Fluchtursachen bleiben.“

 bv-nemo.de

 neue-deutsche-organisationen.de

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