© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Pankraz,
Parag Khanna und die Neue Seidenstraße

Viele sich für progressiv haltende Zeitgenossen konstatieren zur Zeit mit Zorn und Bitterkeit das „Verschwinden der Postmoderne“, so neulich Professor Volker Reinhardt (63) in der Neuen Zürcher Zeitung. „Wir haben uns so weit von Aufklärung und Moderne entfernt“, klagt er, „daß wir fast schon wieder im 16., 17. Jahrhundert gelandet sind (…) Das war noch vor wenigen Jahrzehnten ganz anders: Die ältere Generation galt als korrumpiert und unheilbar reaktionär; wer selbstbestimmt leben wollte, mußte sich von allen Banden der Herkunft so schnell wie möglich frei machen.“

Andere erklärte Progressisten, zum Beispiel der aus Indien stammende und zur Zeit in Singapur lehrende US-Politologe Parag Khanna (40), der soeben ein neues, den Vorzügen der  sogenannten „Dritten Welt“ gewidmetes Buch herausgebracht hat, sehen das allerdings ganz anders. Es läuft doch alles prima, jubelte er soeben im Interview mit der Frankfurter Rundschau. „Asien und Afrika blühen auf, neue große Infrastrukturprojekte wie die von China angeschobene ‘Neue Seidenstraße’ verknüpfen immer mehr Länder, die miteinander Handel treiben können. Nur der Westen, der steckt in einer Krise.“

Das Resümee von Khanna lautet: „Der Westen kümmert sich zu sehr um die Verfahren statt um die Ergebnisse. Das Herumreiten auf von uns ‘demokratisch’ genannten Verfahren, die nur die bestehenden, Weiterentwicklungen behindernden Verhältnisse zementieren, wird uns nicht aus der Patsche heraushelfen. Manche werfen mir vor, ich sei undemokratisch, weil ich die Effizienz Singapurs lobe. Aber welcher Antidemokrat ist für eine allgemeine Wahlpflicht?“


Gemeint ist: Ich bin zwar (selbstverständlich) Demokrat, doch für was ich mich halte und was wirklich passiert, das sind zwei völlig verschiedene Perspektiven. In was für einer „Epoche“ ich angeblich lebe und welche Schlagwörter für gute Demokraten da angesagt sind, spielt für die reale Weltentwicklung nicht die geringste Rolle. Das kann man schon an der Etymologie des Wortes „Epoche“ ablesen. „Epoche“ heißt an ihrem (altgriechischen) Ursprung nichts weiter als „Haltepunkt“, wo man sich, etwa im Wasser eines reißenden Flusses stehend,   festklammern kann.

Wer nach Epochen sucht, der will nicht mitschwimmen, sondern gut verankert stehen bleiben. An sich ist das keine unehrenhafte Absicht, meist sogar im Gegenteil. Man will man selbst bleiben, will ab und an auch einmal stehenbleiben dürfen, um die aktuell fließende Lage genauer zu prüfen, sich nicht von ihrem aufdringlichen Glucksen und Gurgeln einschüchtern zu lassen.

Historiker benötigen den Epochen-Begriff für ihre Arbeit geradezu, weil sie ja den grauen Fortriß der Zeit gewissermaßen ordnen, ihn einfärben und illuminieren müssen, damit Erzählung überhaupt möglich wird.

Freilich hat schon der treffliche „Historik“-Forscher und Carl-Schmitt-Schüler Reinhart Koselleck (1923–2006) seine Kollegen, die wie er selbst mitten in der berüchtigten 68er- Zeit lehren mußten, eindringlich vor einer Überstrapazierung des Epochen-Begriffs gewarnt. Abgrenzbare „Epochen“ wie im biologischen Leben Jugend und Alter gebe es im Geistesleben und in der Politik gar nicht, es gebe dort allenfalls „Schwellenzeiten“ oder „Sattelzeiten“, wo sich (wie etwa in Deutschland um 1800) die Ereignisse schier überstürzten und dauernd für Aufregung sorgten.

Es seien dann die nachfolgenden Generationen, die aus der Fülle des Angebots ganze Religionen oder vergleichbare Total-Ideologien schmiedeten und diese als generelle Identifikationsformen unter die Leute brächten. So etwas kann natürlich, was Freiheit und wahre Demokratie betrifft, auf Dauer nicht gutgehen. Traditionelle Lebensverhältnisse werden um und um gepflügt, es kommt zu erbittertsten Auseinandersetzungen, veritablen Bürgerkriegen, es entstehen grausame Meinungsdiktaturen, und das alles im Namen von neu angebrochenen Epochen: Aufklarung, Moderne, Postmodere …


Parag Khanna in Singapur bleibt trotzdem gelassen. Wir müssen weniger auf Ideologie und statt dessen mehr auf Technologie setzen, so seine Botschaft. Nicht irgendwelche Ideologien hätten die Menschen aus dem Neandertalerstadium zum Homo sapiens emporgeführt, sondern allein der Fortschritt der Technik; dieser sei der einzige Fortschritt, der uns Menschen zuteil werden könne, auch und vor allem dem heutigen Menschen überall in der modernen Welt. Dafür und für nichts anderes stehe die Wiederherstellung der Seidenstraße und die herrliche Blüte des Stadtstaats Singapur.

Ist das aber wirklich so? Erfüllt sich das Glück des Menschen tatsächlich in dem Bewußtsein, sein Leben lang dem technischen Fortschritt gedient und die dadurch erreichten Bequemlichkeiten genossen zu haben? Alles hat seine zwei Seiten, und so auch der technische Fortschritt. Er weitet unsere Freiheit zweifellos aus, doch er limitiert sie auch, und zwar – wie gerade die aktuelle Entwicklung zeigt – in bedrohlichem Ausmaß. Die vor der Tür stehende „digitale Epoche“, so zeichnet sich ab, wird eine Zeit des Stumpfsinns und der Massendiktatur sein, wo alle dasselbe tun, wenn sie überhaupt noch etwas tun.

Sattelzeit, Schwellenzeit allenthalben. Computer vermessen die Welt, und für sie existiert nur die Große Zahl, die bloße Majorität. Die Algorithmen, die sie ausspucken, schreiben alles  vor, vom Format der Zahnbürste bis zum Wortbrei der von (menschlichen oder künstlichen) Robotern beaufsichtigten Meinungen. Eine Epoche der unendlichen Langeweile wird ausbrechen, und das Wehgeschrei der ideologischen Epochenstifter à la Volker Reinhardt wird dagegen nichts ausrichten können, denn sie sind ja selber langweilig.

„Langeweile ist unser größter Feind“, schrieb einst Voltaire an seine Nichte Madame Denis, „sie ist schwerer zu ertragen als Hunger und Durst. Aber“, so fügte er hinzu, „sie ist auch die beste Krankenwärterin. Noch der letzte Patient flüchtet vor ihr, wenn er kann, aus dem Bett.“