© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Zum Glauben zurückgeführt
Literaturhistorie: Was Heinrich Böll mit dem katholischen Schriftsteller Léon Bloy verbindet
Alexander Pschera

Mit der Kanonisierung von Schriftstellern ist es ebenso eine Sache wie mit Literaturnobelpreisen. Wenigen bekommen sie, den meisten jedoch nicht. Heinrich Böll, der am 21. Dezember seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, hat beides nicht gutgetan. Zu vielen Zeitgenossen ist er als geistiges Oberhaupt der Friedensbewegung und als Apologet der RAF in Erinnerung geblieben. Vielleicht verbindet der eine oder andere mit Böll auch düstere Gedanken an linke Deutschlehrer. Böll hat dazu beigetragen, die Literatur radikal zu politisieren und damit zu verzeitlichen.

Das hat dazu geführt, daß es kaum einen Schriftsteller der nicht allzu fernen siebziger und achtziger Jahre gibt, der heute weniger cool ist als Böll: Johnson, Grass, Handke, Walser kann man alle noch lesen, aber die „Ansichten eines Clowns“? „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“? Die Texte Bölls, ausgenommen vielleicht das „Irische Tagebuch“, sind weder Intellektuellen- noch Hipster-kompatibel. Dennoch kann man es wagen, eine Lanze für Böll zu brechen. Denn es gibt einen anderen Böll, den wenige kennen: den schwarzen Heinrich.

Bücher von Bloy spielten eine Schlüsselrolle

Böll nahm als junger Mann am Zweiten Weltkrieg teil. Er teilte das Schicksal Ernst Jüngers, der als Hauptmann in den Frankreich-Feldzug involviert war. Böll selbst hat in einem Aufsatz über Jünger, der 1975 in der FAZ erschien, beschrieben, was ihn von Jünger trennt und was ihn mit ihm verbindet. Den Schlußpunkt dieser Zeilen bildet der französische Schriftsteller Léon Bloy und die Rolle, die er für beide in den Kriegsjahren spielte. Wie Jünger, so hat Böll im Krieg während seiner „Dienstreisen nach Paris“ „die mir noch unbekannten Werke und Tagebücher von Léon Bloy“ gekauft, „die ich mir in Cafés und Wartesälen entzifferte zur gleichen Zeit, als auch Ernst Jünger in Paris Léon Bloy las“. Nachdem seit einigen Jahren Heinrich Bölls Briefe aus dem Krieg (1939–1945) und jetzt auch die Kriegstagebücher vorliegen, läßt sich diese Spur genauer verfolgen. 

Bereits 1936, also früher als Jünger, las Böll Bloys „Le Sang du Pauvre“ (Das Blut der Armen) in deutscher Übersetzung. Fast wie eine Spiegelung aus den „Strahlungen“ mutet es an, wenn Böll über seine Streifzüge durch Pariser Antiquariate berichtet: „Schön sind nur die wenigen Minuten, die ich tief in den Bücherläden verbringe, die hier so verlockend sind. Der einzige von meinen Käufen, was mich wirklich erfreut für mich selbst, ist ein schönes ledernes Notizbuch, (…)  und zwei Bände Tagebücher von Bloy habe ich noch gefunden, ich freue mich ...“

Und aus Brüssel heißt es am 13. September 1941: „Wie sehr hat es mich getröstet, daß in dieser so unsagbar weltlichen und lebensfreudigen Stadt Pater und Nonnen herumlaufen, und wie froh bin ich, daß ich heute abend in einem wunderbar schönen Laden noch einige Bücher von Bloy kaufen konnte ...“

Böll und Jünger leben in diesen Jahren parallele Leben. Léon Bloy spielt für beide die Rolle eines Schlüssels, der die Geheimnisse der Wirklichkeit aufschließt. Für beide wird er zu einem Wendepunkt. In seinen Briefen unterstreicht Böll, welche Rolle Bloy in seinem Leben spielte. Bloy hat ihn wieder zum Glauben zurückgeführt, den er in seiner Jugend verloren zu haben schien: „Weißt Du auch, daß ich unmittelbar durch Léon Bloy gerettet worden bin; durch diesen Mann, den ich am meisten liebe von allen, die je in Europa Bücher geschrieben haben. Erst Jahre später ist mir dieses alles zum Bewußtsein gekommen; heute übersehe ich einigermaßen diesen ganzen Wust … ihn müßte ich zuerst nennen: Léon Bloy. Manchmal meine ich, daß ich danach erst geboren und getauft worden bin. Seit dieser Zeit geht es auf und ab mit mir, aber ich lebe, lebe, lebe. Ich bin nicht mehr tot. Es wird mir ganz kalt, wenn ich bedenke, daß ich vielleicht wirklich so tot geblieben wäre“. Bloy wird zum Begleiter von Bölls Wende, die er in diesem Brief vom 3. Dezember 1940 an die Übersetzerin Annemarie Cech, seine spätere Ehefrau,  beschreibt. 

Auch Bloys symbolisches Denken färbt ab. Böll interpretiert rückblickend die sieben Jahre seiner Gottferne als einen Zeitraum höchster Bedeutsamkeit: „Ich erzählte Dir schon, daß ich von meinem 12. bis zu meinem 19. Lebensjahr mich nur wie ein Kadaver habe mitschleppen lassen; ich habe sieben Jahre nicht gebeichtet, nicht kommuniziert, nicht gebetet. Nur manchmal – scheinbar grundlos – geweint. (…) Vielleicht ist es nur der Abschaum dieser unendlich trostlosen sieben Jahre, der dann aus meiner Seele quillt; dann bin ich nicht bei mir ... ich fühle nichts und bin mir selbst wie ein Fremder, bis ich erwache ... ich habe nie den Glauben verloren in dieser Zeit; und da ich geglaubt habe, war auch die Liebe und die Hoffnung in mir, aber ich habe sie totgeschwiegen und vielleicht sogar ermordet gehabt in mir; doch Gott erweckt die Toten ...“ 

Diese symbolische Ausdeutung des eigenen Lebens, die er bei Bloy lernen konnte, setzt Böll noch weiter fort: „Ist es nicht sonderbar, daß Léon Bloy im November 1917 gestorben ist und ich im Dezember 1917 geboren wurde? Eben, als mir das beim Lesen des Buches klar wurde, erschrak ich richtig ...“ 

Jüngers Kaltschnäuzigkeit stört Heinrich Böll

Bloy wurde aber auch zur Scheidelinie zwischen Böll und Jünger. In den Kriegsjahren liest Böll Jüngers „Gärten und Straßen“ und nimmt nicht nur Anstoß an den „oft langen Beschreibungen von Mahlzeiten“. Vor allem erbosen ihn Jüngers Einträge zu Bloys Roman „La Femme pauvre“. Im April 1943 heißt es dazu: „Was mich an Jünger am meisten empört hat, ist seine kaltschnäuzige Abfertigung Bloys; wer nach der Lektüre eines solchen Buches so kalt darüber urteilt, dem fehlt wirklich etwas; ich hätte noch verstanden, wenn er das Buch absolut verdammt hätte, aber eigentlich ist diese kaltschnäuzige Beurteilung wirklich scheußlich; wenn er das Buch nicht verstehen konnte, dann hätte er es unerwähnt lassen sollen, nicht wahr? Ich liebe Léon Bloy, deshalb wache ich vielleicht allzu eifersüchtig über jede Abfertigung, aber selbst wenn man meine Eifersucht abzieht, bleibt wohl immer noch ein Grund zur Anklage ...“

Der „kalte“ Ernst Jünger konvertierte Jahrzehnte später, kurz vor seinem Tod, zum Katholizismus – auch als ein Ergebnis seiner Bloy-Lektüre. Böll hat das nicht mehr erlebt. Wahrscheinlich hätte es ihn gefreut. 





Heinrich Böll

In der Kölner Südstadt 1917 geboren, gelang Heinrich Böll nach dem Abitur, abgebrochener Buchhändlerlehre und Kriegsdienst in den Fünfzigern der literarische Durchbruch. In dichter Folge veröffentlichte er zahlreiche Werke, darunter „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Haus ohne Hüter“ (1954), „Irisches Tagebuch“ (1957), „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren“ (1958), „Billard um halbzehn“ (1959), „Ansichten eines Clowns“ (1963). 1971 erschien der Geschichtsroman „Gruppenbild mit Dame“; im Jahr darauf erhielt er den Literaturnobelpreis. Drei Jahre später veröffentlichte er die gegen die Bild-Zeitung gerichtete Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Zu der Zeit galt der politische Linksintellektuelle Böll als „RAF-Versteher“ und „geistiger Sympathisant“ des Terrorismus, weil er sich im Januar 1972 in einem Spiegel-Artikel verharmlosend über die Linksterroristen um Ulrike Meinhof geäußert und die Berichterstattung des Springer-Boulevardblattes kritisiert hatte. Böll starb 1985. (tha)