© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Erneuerung der CDU
Die Zeit nach Merkel denken
Klaus Kelle

Selbst hartgesottenen Parteisoldaten der Christlich-Demokratischen Union stockte am Tag nach der für die CDU desaströs verlorenen Bundestagswahl der Atem, als die Parteivorsitzende, Spitzenkandidatin und demnächst wieder Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Hauptstadtpresse zum besten gab, sie sehe nicht, „was wir anders machen sollten“. Ist die von Medien immer mal wieder zur mächtigsten Frau der Welt hochgeschriebene Politikerin wirklich so naiv? Oder ist sie von einer selbst im Berliner Politbetrieb beispiellosen Kaltschnäuzigkeit?

Nein, naiv ist die gelernte Physikerin, großgeworden in der DDR, wohl nicht, wenngleich ihre Fehleinschätzungen in der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 und danach für jeden unübersehbar sind. Konnte man die deutschen Grenzen effektiv schließen? Die Bundespolizei war sicher, diesen Auftrag innerhalb von 48 Stunden erledigen zu können. Doch Angela Merkel und ihr zuständiges Umfeld zögerten und schufen so die Situation, die zur schlimmsten Wahlniederlage der CDU und ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU bei einer Bundestagswahl nach 1949 führte.

Die Gründe für das enttäuschende Abschneiden der Union am 24. September sind schnell festzustellen. Doch der schleichende Niedergang der Partei Konrad Adenauers, Ludwig Erhards und Helmut Kohls begann schon viel früher. Er begann mit Angela Merkel, die am 10. April 2000 zur Vorsitzenden der Partei gewählt wurde und Deutschland nach dem Krieg geprägt hat wie keine andere.

Warum eigentlich wurde Angela Merkel zur Chefin? In seinem lesenswerten Buch „Merkels Maske“ zeichnet Hinrich Rohbohm den Lebensweg Merkels vor Wiedererlangung der deutschen Einheit nach. Akribisch sammelte er Stimmen früherer Weggefährten aus Honeckers Arbeiter- und Bauernparadies. Ob „die Angela“ zur SPD gehen würde oder zu den Grünen, darüber wurde gerätselt in ihrem Freundeskreis. Niemand kam auf den Gedanken, die heutige Kanzlerin werde sich der damals noch deutlich stärker christlich-konservativ geprägten CDU Helmut Kohls anschließen. Doch genau dort landete sie über den Umweg der Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“, die sich dann im Einheitstaumel der CDU anschloß. Eine Karriere, die rational heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Rohbohm ist keiner, der an Verschwörungstheorien glaubt. Die perestroikabegeisterte Angela Merkel habe einfach ihre Chance genutzt, als sie sich eröffnete. So einfach, so banal. Wenn man so will: als der Mantel der Geschichte eben wehte.

Die sogenannte Modernisierung der CDU unter Merkel ist der vermutlich größte strategische Fehlschlag in der Geschichte der modernen Parteiendemokratie in Deutschland. Es muß Anfang 2005 gewesen sein, als der CDU-Politiker und dann nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, flankiert von einem Professor der Bremer Universität, das Konzept vorstellte, die Union müsse sich den urbanen – also großstädtischen – Milieus stärker zuwenden, statt weiter vornehmlich auf die traditionellen Bataillone aus Vertriebenen, Katholiken, Handwerkern, Bauern und so weiter zu setzen. Als ich in dieser Pressekonferenz im Düsseldorfer Landtag fragte, ob alle diese Treuesten der Treuen die neue Art der Modernisierung mitmachen würden, antworteten die beiden Herren auf dem Podium: „Die können ja gar nichts anderes wählen als CDU.“

Muß sich eine Volkspartei modernisieren, wenn die Bürger Modernität leben? Natürlich! Aber sie muß es aus eigenen Ideen heraus tun und nicht durch Übernahme politischer Positionen, die sie jahrzehntelang erbittert bekämpft hat. 

Nun, spätestens seit dem 24. September 2017 wissen alle, daß „die“ sehr wohl etwas anderes wählen können. Die AfD zum Beispiel, die neue Partei, die den von Merkels sozialdemokratisierter Union freigeräumten Platz rechts von ihr mit sechs Millionen Wählerstimmen kraftvoll ausfüllte. Allein eine Million Wähler, die noch 2013 CDU und CSU gewählt hatten, wechselten vier Jahre später direkt zur Gauland-Meuthen-Partei. Direkt zur wiedererstarkten FDP wanderten sogar 1,4 Millionen frühere Unions-Wähler, und man muß kein Hellseher sein, um zu erkennen, daß viele von denen wohl auch AfD gewählt hätten, wenn es dort nicht Leute wie den Thüringer Björn Höcke mit seiner Dresdner Rede gegeben hätte.

Modernisierung? Beliebigkeit! Angela Merkel lenkte die immer noch große CDU nach Gutsherrenart. Atomunfall in Fukushima – Deutschland kippt seine gewachsene Energiepolitik und steigt aus, während weltweit derzeit rund 80 neue Kernkraftwerke gebaut werden, teilweise übrigens mit hochentwickelter deutscher Spitzentechnologie. Hat das vorher ein CDU-Gremium beschlossen? Ein Bundesparteitag? Das Kabinett oder der Deutsche Bundestag? Nein, Angela Merkel greift zum Hörer, und dann läuft die Maschine. Und alle nicken es ab.

Nirgendwo wird der Machtinstinkt der CDU-Vorsitzenden so sichtbar wie bei der Entscheidung um die „Ehe für alle“, also der Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften mit der traditionellen Ehe von Mann und Frau, die im Artikel 6 des Grundgesetzes besonders privilegiert wird. Zweimal scheiterten Anträge auf Bundesparteitagen der CDU mit deutlicher Mehrheit, die „Ehe für alle“ einzuführen. Die Bundestagsfraktion stimmte mehrheitlich dagegen. Doch dann zeigte Angela Merkel, was sie drauf hat. Homo-Ehe? Nichts anderes als ein Hindernis für Koalitionen nach der Bundestagswahl. Christian Lindners FDP machte den Aufschlag: Koalitionsgespräche werde es mit den Liberalen nach der Bundestagswahl nur dann geben, wenn die „Ehe für alle“ als gemeinsames Ziel gesetzt sei.

Sicher ein Zufall, daß Merkel den Ball dann sofort aufnahm, und das, was die Mehrheit in ihrer Partei erkennbar nicht wollte, zur Gewissensfrage erklärte. 75 Bundestagsabgeordnete der Union stimmten zu, damit waren alle Koalitionshürden vom Tisch. Daß Merkel dann im Bundestag auch noch mit Nein stimmte und erklärte, für sei „die Ehe im Grundgesetz die Ehe von Mann und Frau“, macht sprachlos.

Die alte CDU gibt es nicht mehr, wahrnehmbare konservative Köpfe wie einst Alfred Dregger auch nicht. Und die neue Merkel-CDU ist erkennbar auch kein Zukunftsmodell. Muß sich eine Volkspartei modernisieren, wenn die Bürger Modernität leben? Natürlich! Aber sie muß es aus eigenen Ideen heraus tun und nicht durch Übernahme politischer Positionen, die sie jahrzehntelang erbittert bekämpft hat.

Schon im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 gründeten sich bundesweit „Konservative Kreise“ in CDU und CSU, um dem mit Händen zu greifenden Unbehagen vieler Mitglieder eine Stimme zu geben. Der lange Jahre behäbig agierende „Berliner Kreis“ aus konservativen Bundestagsabgeordneten der Union wird zunehmend gefragt und gehört – auch von den Medien im Lande.

Christean Wagner, früherer hessischer Kultus- und Justizminister, ist einer der Gründer des Kreises. Vor wenigen Tagen widersprach er in einem Gastbeitrag für die katholische Tagespost seiner Parteiführung, die nun ihre ganze Hoffnung auf die Bildung einer neuen Großen Koalition aus Union und SPD setzt.

Die Union, so Wagner, müsse bei Verabredungen mit der SPD „penibel darauf achten, daß sie sich nicht über den Tisch ziehen läßt“. Gegen eine Minderheitsregierung der Union spreche aber wenig. Und in der Tat: Das Argument, eine GroKo bringe in den internationalen Beziehungen Instabilität, zieht nicht. So hat sich Deutschland zum Beispiel in der vergangenen Legislaturperiode bei EU-Ratsentscheidungen in Brüssel in 40 Prozent der Fälle enthalten. Und?

Kann eine erneute GroKo inhaltlich funktionieren? Klar, man wird kungeln. Die SPD bekommt die Bürgerversicherung, die Union ihre Ausreisezentren. Irgendwie wird es schon gehen. Doch sicher ist auch: Die Parteien rechts und links der „Volksparteien“ werden dann weiter Zulauf bekommen. Dieser Einheitsbrei, dieses ständige Vermeiden konträrer Standpunkte, diese Langeweile im Bundestag – das war für viele Wähler in den vergangenen Jahren schon kaum noch zu ertragen.

Was all den gut gemeinten und engagierten Bemühungen bisher fehlt, ist die Machtperspektive. Es muß endlich einer aufstehen – so wie einst Merkel gegenüber dem politischen Übervater Helmut Kohl – und sagen: „Danke, Angela, aber es reicht!“

Und die Bundestagsfraktion? Von der hört man in diesen Tagen nichts. Volker Kauder wurde direkt nach der Bundestagswahl zum Fraktionschef gewählt – mit 77,3 Prozent ohne einen Gegenkandidaten. Ein Vertrauensvorschuß sieht anders aus.

Der Kanzlerinnen-Wahlverein ist in Bewegung geraten, endlich. Im „Berliner Kreis“ sitzt man nicht mehr bei Schnittchen zusammen und versucht, möglichst bei Hofe nicht unangenehm aufzufallen. Man diskutiert. Ja, wirklich! Man holt sich externe Referenten, die erklären, wie in unserer Gesellschaft der Begriff „konservativ“ wieder energisch ausgefüllt werden kann. Man redet wieder offen über eine Familienpolitik, die den Namen verdient und die die Familie mit Kindern in den Mittelpunkt stellt. Warum führen eigentlich die CDU-Bundesländer nicht endlich ein Betreuungsgeld ein wie die Bayern? Was ist mit der übereilt abgeschafften Wehrpflicht? Soll die wieder eingeführt werden oder wenigstens ein Dienstjahr?

Und als letztens bei einem Treffen von „Berliner Kreis“ und dem Dachverband konservativer Aufbrüche namens „WerteUnion“ mit ihrem smarten Vorsitzenden Alexander Mitsch an der Spitze versehentlich ein kritisches Diskussionspapier zum Klimawandel von einem Fernsehjournalisten entdeckt und veröffentlich wurde, war der Aufschrei in der Partei und den Medien groß. Ein Sturm im Wasserglas, denn am Tag danach ruderte man schnell zurück. Bloß keine Nähe zu US-Präsident Donald Trump signalisieren! Das Papier sei weder diskutiert noch beschlossen worden, wurde richtiggestellt.

Aber allein, daß die Konservativen in der Union solche Themen endlich angehen und inhaltlich darüber streiten, ist eine erstaunliche Entwicklung in einer CDU, in der man die öffentliche Wirkung eines Bundesparteitages inzwischen anhand der Länge der Klatschorgien für die Kanzlerin mißt, anstatt an der Qualität der programmatischen Arbeit.

Was all den gut gemeinten und engagierten Bemühungen bisher fehlt, ist die Machtperspektive. Es muß endlich einer aufstehen – so wie einst Merkel gegenüber dem politischen Übervater Kohl – und sagen: „Danke, Angela, aber es reicht!“ Der Staatssekretär Jens Spahn aus dem Bundesfinanzministerium ist so einer, dem viele in der Partei das zutrauen. Bei Sterbehilfe und Stammzellenforschung hat der bekennende Homosexuelle bemerkenswert konservative Reden gehalten. Der gebürtige Westfale traut sich was. So trat er 2014 bei der Wahl zum Präsidium der CDU gegen Hermann Gröhe, den Wunschkandidaten Merkels, an und setzte sich durch. Auch beim Parteitagsbeschluß gegen den Doppelpaß spielte Spahn eine entscheidende Rolle auf der gegenüberliegenden Seite von Merkel, die sich dann – wie so oft – in dieser Frage über den Willen ihres Parteivolkes hinwegsetzte.

Doch die Merkel-Dämmerung hat längst begonnen. Wer in CDU-Kreisverbänden landauf, landab unterwegs ist, spürt das Unbehagen bei denen, die noch immer treu zu ihrer Partei stehen, die sich aber wieder an klaren Überzeugungen der eigenen Farben orientieren wollen. „Die Angela hat keinen politischen Kompaß“, ist so ein Satz, den man vielerorts zu hören bekommt in den Hinterzimmern von Landgasthäusern, in denen sich die Mitglieder von CDU-Ortsvereinen einmal im Monat versammeln. Die Parteisoldaten sehnen sich nach einem Anführer, einem, der eine klare Haltung vertritt, den Konservatismus wieder zum Leben erweckt. Einem wie Sebastian Kurz in Österreich, der einer trägen und heruntergewirtschafteten ÖVP in nur wenigen Wochen Energie und Lebensmut eingehaucht und sie zu einem Wahlsieg geführt hat. Könnte ein Jens Spahn das auch? Wer seinen umjubelten Auftritt vor einigen Wochen beim Deutschlandtag der Jungen Union erlebt hat, wird daran keinen Zweifel mehr haben.






Klaus Kelle, Jahrgang 1959, ist Journalist, Publizist und Medienunternehmer. Er arbeitete unter anderem für die Verlage Axel Springer und Gruner & Jahr, den Tagesspiegel und die Badische Zeitung. In Berlin war er Chefredakteur des Berliner Rundfunks und in Köln Chefredakteur von 20 Minuten.

Foto: Schattenbild einer Bundeskanzlerin: Die CDU ist in Bewegung geraten, die Merkel-Dämmerung hat längst begonnen