© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Den Tiger aus dem Käfig gelassen
Konfrontation statt Vermittlung: Die Machtübernahme in Frankreich durch Georges Clemenceau 1917
Karlheinz Weißmann

Meine Formel ist immer dieselbe. Innenpolitik? Ich führe Krieg. Außenpolitik? Ich führe Krieg. Ich führe immer Krieg. Und ich werde das fortsetzen bis zur letzten Viertelstunde.“ Mit diesen Worten wandte sich Georges Clemenceau als französischer Premierminister am 8. März 1918 an die Parlamentsabgeordneten. Seine Rede diente dazu, den Volksvertretern ihre Bedeutungslosigkeit vor Augen zu führen, angesichts des großen Ziels, das der „Tiger“ verfolgte: den Endsieg des Vaterlandes im Kampf gegen seinen Erzfeind, den „boche“. Ein knappes halbes Jahr zuvor hatte Clemenceau sein Amt angetreten, ein gutes halbes Jahr später würde er triumphieren. Aber das blieb ein kurzer Augenblick, bevor er endgültig scheiterte: am Griff nach dem höchsten Amt, der Präsidentschaft, und daran, Deutschland vollständig zu zerstören. Er zog sich verbittert ins Privatleben zurück und blickte mit Groll auf eine lange, wechselvolle Karriere, in der sich auch die krisenhafte Entwicklung des nachrevolutionären Frankreichs spiegelte.

Clemenceau wurde am 28. September 1841 in einem kleinen Ort der Vendée geboren. Es war die Zeit des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. Clemenceaus Vater gehörte zur republikanischen Opposition. Der Sohn folgte dem väterlichen Vorbild nicht nur im Hinblick auf die Berufswahl – er studierte wie sein Vater Medizin, übte den Beruf allerdings kaum aus –, sondern auch im Hinblick auf die Gesinnung. Als 1870 das Zweite Kaiserreich unter den Schlägen der deutschen Armeen zusammenbrach und aus seinen Trümmern die Dritte Republik erstand, zählte Clemenceau deshalb zu den Profiteuren der neuen Verhältnisse. 

Rasch stieg er in der Politischen Klasse auf, übernahm verschiedene Ämter, gründete Zeitungen und zählte zu den wichtigen Köpfen der äußersten – nichtsozialistischen – Linken. Clemenceau war bekannt für seine scharfe Polemik, als Abgeordneter ein „Ministerstürzer“ und gleichzeitig ein gewiefter Taktiker. Es gelang ihm sogar, die Verwicklung in den großen Panama-Skandal halbwegs unbeschadet zu überstehen. 

Allerdings verlor er sein Mandat, und es folgte ein jahrelanger „Marsch durch die Wüste“. Erst die Dreyfus-Affäre bot ihm die Chance eines Neuanfangs. Zu Beginn hatte er gegen den der Spionage angeklagten Alfred Dreyfus Stellung genommen, dann um so entschiedener für ihn Stellung bezogen. Emile Zolas berühmter Artikel „J’accuse“ erschien in Clemenceaus Zeitung L’ Aurore. Als „Radikaler“ zog Clemenceau kurz darauf in den Senat ein, und 1906 konnte der „alte Debütant“ sogar ein Kabinett bilden. 

Es hielt sich bis 1909, eine erstaunlich lange Zeit angesichts der notorischen Instabilität französischer Regierungen. Trotzdem war die Bilanz durchwachsen. Eines hatte Clemenceau allerdings deutlich gemacht: ungewöhnliche Entschlossenheit und ungewöhnlichen Durchsetzungswillen. Raymond Poincaré, einer seiner Intimfeinde, bestätigte ihm nicht ohne Bewunderung, er, Clemenceau, sei „ein Patriot wie die Jakobiner von 1793“.

Unerbittlich am Gedanken der „Revanche“ festgehalten

Dieser Einschätzung entsprachen die Grundlinien der Politik Clemenceaus, an denen er trotz aller taktischen Wendungen festhielt: der Antiklerikalismus, die Durchsetzung der vollständigen Trennung von Staat und Kirche, der Antisozialismus, die zähe Verteidigung des Eigentumsrechts, vor allem der Kleinbürger, und der Antipazifismus, die Bekämpfung des vor allem auf der Linken deutlicher zur Geltung kommenden Wunsches nach Abrüstung und einem Ausgleich mit Deutschland. Dagegen hielt Clemenceau unerbittlich am Gedanken der „Revanche“ fest. Scharf griff er jeden an, der die „blauen Kämme der Vogesen“ aus dem Blick verlor, also den notwendigen Rachefeldzug, um das verlorene Elsaß-Lothringen zurückzugewinnen. Schon deshalb mußte ihn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Genugtuung erfüllen.

Allerdings glaubten nur wenige in Paris, daß der Dreiundsiebzigjährige noch einmal eine wichtige Rolle in der Politik spielen werde. Er mochte die „Union sacrée“, die französische Variante des „Burgfriedens“, beschwören, den Defaitismus geißeln und an die Front reisen. Von den Schalthebeln der Macht hielt man ihn fern. Das änderte sich erst im Herbst 1917, als die Lage Frankreich eine gefährliche Zuspitzung erfuhr. Der faktische Ausfall des russischen Verbündeten und die rote Welle, die der bolschewistische Umsturz ausgelöst hatte, die Schwäche des italienischen Verbündeten und die Verzögerungen beim Einsatz des US-Alliierten, die Meutereien, die seit dem Frühjahr das Heer geschwächt hatten, Spionageaffären und die allgemeine Kriegsmüdigkeit drohten die Aussicht auf einen Sieg zunichte zu machen.

Für Clemenceau war das nur Anlaß, in immer neuen Kampagnen, „Laxheit“ und „Verrat“ anzugreifen. Von seinen Attacken nahm er nicht einmal die amtierende Regierung aus, der er vorhielt, gegen die nationalen Interessen zu handeln. Die Folge war zuletzt deren Rücktritt und die Bildung eines neuen Kabinetts unter der Führung Clemenceaus. Der nahm als erstes den Kampf an der „inneren Front“ auf: Die Disziplin in der Armee wurde wiederhergestellt, die Pressezensur verschärft, wirkliche oder vermeintliche „Verschwörer“ unter Anklage gestellt, auch ohne Nachweis der Schuld inhaftiert und abgeurteilt, die Kammern entmachtet, allen Sondierungen mit dem Feind ein Ende gesetzt.

Diese Diktatur des „Tigers“ war durchaus populär. Dabei gehörten zu den wichtigen Unterstützern Clemenceaus ausgerechnet seine Hauptgegner von einst: die Royalisten der Action Française (AF). Diese Art von Querfront war sicher eines der verstörenden Merkmale seiner Politik. Sie findet ihre Erklärung aber in jener jakobinischen Tradition, die Clemenceau geprägt hatte und die seit der Revolution eine Synthese mit dem Nationalismus eingegangen war. Dessen demokratisches Element ließ sich fallweise mit humanitärem Pathos verbinden, aber auch mit der hemmungslosen Aufstachelung zum Völkerhaß, die Clemenceau praktizierte. Den Männern der AF konnte das nur recht sein, aber sie setzten außerdem auf eine innere Tendenz der Politik Clemenceaus, die zuletzt den Parlamentarismus in Frage stellen und zur Befürwortung einer plebiszitären Herrschaft führen konnte, die nicht weit entfernt war von der Idee der Königsdiktatur, die sie selbst favorisierten.

Über „allzu milden Frieden“ in Versailles verbittert

So weit ist es nie gekommen. Trotzdem verteidigten die Royalisten den „Vater des Sieges“ entschlossen gegen jede Kritik, auch nachdem die Linke 1919 die Parlamentswahlen verlor, die Regierung ihre Sonderrechte abgeben mußte und Clemenceau im Folgejahr bei der Bewerbung um das höchste Staatsamt scheiterte. Selbstverständlich wußte man, was einander trennte. Clemenceau blieb ein „Pfaffenfresser“, die Action hielt an ihrem Haß auf die „Schlampe“, die Republik, fest. Aber man war doch einig in der Überzeugung, daß jene eineinhalb Million gefallenen Franzosen ihr Leben für einen allzu „milden“ Frieden (Jacques Bainville) hingegeben hatten, weil der Versailler Vertrag Deutschland trotz allem bestehen ließ, anstatt ihm seine westlichen Provinzen zu nehmen und es in Kleinstaaten zu zerschlagen. 

Clemenceau zog sich verbittert aus der Öffentlichkeit zurück, und in seinem Spätwerk – „Au Soir de la Pensée“ –, das erst nach seinem Tod am 24. November 1929 erschien, übte er massive Kritik an der repräsentativen Demokratie. Er glaube zwar nicht, daß eine Militärherrschaft, das Sowjetsystem, der Faschismus oder die Rückkehr zur Monarchie Alternativen böten, aber mit einer gewisse Resignation sah er, daß der Parlamentarismus dieselben degenerativen Erscheinungen zeigte wie antike Demokratien – Oligarchisierung einerseits, Verpöbelung andererseits –, und nichts blieb als die Hoffnung darauf, daß die „Evolution“ es richten werde. Ein Stück Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, des Zeitalters, dem Clemenceau immer verhaftet blieb.