© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Eine Armee in Abwicklung
Die Bundeswehr ist nicht abwehrbereit: Der Wehrexperte Martin Sebaldt legt den Finger in offene Wunden
Peter Seidel

Im Jahr 1975 erklärte Bundeskanzler Helmut Schmidt gegenüber Mao Tse-tung in Peking, „unsere Armee gehört zu den am besten ausgebildeten und ausgerüsteten Streitkräften der Welt; das gilt auch für ihren Geist. Wir können uns im Falle der Not gut verteidigen.“ 2017 erscheint das Buch eines besorgten Offiziers über die Bundeswehr mit dem deutlichen Titel „Nicht abwehrbereit“. Doch anders als 1962, als ein Spiegel-Artikel mit dem vergleichsweise harmlosen Titel „Bedingt abwehrbereit“ eine Staatskrise auslöste und am Ende zum Rücktritt des Verteidigungsministers führte, hat dies keine Reaktion ausgelöst. Spielt der Befund also keine Rolle oder ist diese Entwicklung so gewollt?

Das Buch des Politikwissenschaftlers und Reserveoffiziers Martin Sebaldt beschäftigt sich mit den „Kardinalproblemen der deutschen Streitkräfte, dem Offenbarungseid des Weißbuchs und den Wegen aus der Gefahr“, wie es im Untertitel heißt. Das mag nur Verteidigungspolitiker interessieren, doch wie bei so manchem Buch sind es die Nebenbemerkungen, die seinen Mehrwert für die Allgemeinheit ausmachen. Das sind vor allem die „Europäisierung“ der deutschen Streitkräfte, die Vorstellung, man könne beim Neuaufbau der Bundeswehr den Armeen anderer Länder das Kämpfen überlassen, und das Strategiedefizit der deutschen politischen Kultur. 

Wie sieht die „Europäisierung“ der Bundeswehr aus? Das deutsche Panzerbataillon 414 wurde der niederländischen 43. mechanisierten Brigade unterstellt, und die 1. deutsche Panzerdivision „führt“ diese Brigade, aber „nur zu Ausbildungs- und Übungszwecken“ und nur „in Friedenszeiten“. Schon 1994 sprach Michael Innacker von einer „militärisch überflüssigen Streitkräfte-Integration“, einem „militärischen Multikulturalismus“ und einem „Wirrwarr von Unterstellungsverhältnissen“ bei der Bundeswehr wie bei „keiner anderen Armee“. 

Frankreich geht einen anderen Weg: Dort können Ausländer in Zukunft in der regulären französischen Armee Dienst leisten. Bei voller französischer Befehlsstruktur. Von Großbritannien ganz zu schweigen. Von Sebaldt wird der deutsche Sonderweg aber nur vermerkt, nicht kritisiert. 

Der Bundeswehr mangelt es an strategischer Ausrichtung  

Dies gilt erst recht auch für die Vorstellung, die Bundeswehr solle sich stärker darauf konzentrieren, in Einsätzen bei der betroffenen Bevölkerung „Herzen und Verstand zu gewinnen“, als Kämpfe erfolgreich zu bestehen. Dem schließt er sich an, weil es „auch menschlicher“ und „ziviler“ sei. Wer soll dann eine Entscheidung herbeiführen, wer kämpfen? Die Verbündeten? Damit die Bundeswehr dann als Besatzungsarmee die Befriedung übernehmen könne? Kein Wunder, daß sich Deutschland längst auf Troßfragen wie Transport und Sanitätswesen konzentriert, wenn es hochkommt auch auf unbewaffnete Aufklärung. Kein Wunder, daß das Satiremagazin Titanic jüngst lästerte: „Deutsche Bundeswehr. Ehrenamtliche Wehrsportgruppe der BRD GmbH. Waffen veraltet, seltene Erfolge gegen Tanklastzüge, klärt lieber aus der Luft auf (General-Sommer-Geschwader)“. 

Lediglich beim Thema „Strategiedefizit“ wird Sebaldt deutlich. Neu und weiterführend sind die im letzten Kapitel angesprochenen Strategiefragen durchaus, die über Ausrichtung und Wert deutscher Streitkräfte entscheiden könnten, denn hier liege am meisten im argen: Zu Recht fordert Sebaldt „militärwissenschaftliche Schwerpunkte“ an Bundeswehruniversitäten, denn „wo strategische Grundlagenarbeit durch Routineaufgaben bzw. durch eine lückenhafte akademische Planung derart in den Hintergrund gedrängt wird, darf man sich (...) nicht wundern, wenn der Bundeswehr bis heute eine einheitliche Militärstrategie fehlt“. Aber auch hier kein Wort etwa zu Clausewitz, statt dessen wird der amerikanische Marinehistoriker Alfred Thayer Mahan als Beispiel genannt, Lieblingsautor von Wilhelm II., dessen Anwendung auf die so ganz anders gearteten geopolitischen Verhältnisse Deutschlands schon im Ersten Weltkrieg scheiterte.

Der Rest des Büchleins ist eher konventionell, aber für die Bundeswehr konstruktiv: Auf knapp 150 Seiten erläutert der Oberst der Reserve, früher tätig an der Führungsakademie der Bundeswehr, deren sechs „Kardinalprobleme“: Die Bundeswehr habe keine effektiven Reserven, verliere ihr Personal und gewinne durch die Aussetzung der Wehrpflicht zuwenig neues, verschwinde deshalb auch aus der Gesellschaft. Sie verliere ihre „materielle Effektivität“ durch alte oder fehlende Waffen, verharre in starren Strukturen und vernachlässige ihre Strategie. Das neue Weißbuch bleibe darauf „die Antworten schuldig!“ Sein Fazit: „keine strategisch-programmatische Positionsbestimmung“ und „kaum konzeptionelle Konsense“! Der Befund ist nicht neu, wird aber klar belegt und mit Lösungsvorschlägen kombiniert.  

Leider ist der Autor zu sehr bundesdeutschen Ideologismen auf den Leim gegangen, wie der von angeblichen Einsparungen durch europäische Rüstungszusammenarbeit und Standardisierung, obwohl dies der Bundeswehr schon auf nationaler Ebene nicht gelingt, und den dafür neu beschlossenen zusätzlichen europäischen Umverteilungsmechanismen. Nach dem Sinn und Wert von „Patchworkarmeen“ wird nicht gefragt. 

Dies kommt nicht von ungefähr: Wie das im selben Verlag erschienene „Jahrbuch Innere Führung 2016“ zeigt, geht es heute eben auch um die Frage, ob Habermas oder Clausewitz das Leitbild für die Bundeswehr der Zukunft abgeben sollen, ob man also „die Prophezeiungen der Kritischen Theorie in die Organisation Militär“, wie Fregattenkapitän Peter Buchner in Erinnerung an den „Vater der Inneren Führung“ Wolf Graf von Baudissin hervorhob, überträgt oder sie wieder abwehrbereit macht. Und ob man wie Habermas die Abschaffung des Nationalstaates und die Schaffung eines europäischen Superstaates fordert und dies wie die Verteidigungsministerin praktisch umsetzt oder wie Sebaldt dann am Schluß doch fordert, „daß Deutschland als große Nation seiner sicherheitspolitischen Rolle im weltweiten Mächtekonzert gerecht wird“. Über den Weg dahin schweigt er sich allerdings aus.

Martin Sebaldt: Nicht abwehrbereit. Die Kardinalprobleme der deutschen Streitkräfte, der Offenbarungseid des Weißbuchs und die Wege aus der Gefahr. Miles-Verlag, Berlin 2017, broschiert, 150 Seiten, 9,80 Euro