© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Kritische Technik reichert sich erdenweit an
Günther Anders und die Differenz zwischen nuklearen Fähigkeiten und zurückbleibender Ethik
Volker Kempf

Auf dem Schreibtisch von Donald Trump befindet sich ein roter Knopf, den er Journalisten mit der Bemerkung zeigte: „Alle werden nervös“, wenn er zu nahe an ihn komme. Dies ließ befürchten, er könne damit womöglich Atomraketen starten. Aber der US-Präsident bestellt damit nur Getränke. Ob das der Philosoph der Anti-Atomtod-Bewegung, Günther Anders, lustig fände, der einmal meinte, alles sei lustig, wenn es nicht katastrophal ist, ist schwer zu beantworten. Die Möglichkeit einer atomaren Katastrophe war das Kernthema des am 17. Dezember vor 25 Jahren in Wien verstorbenen Schriftstellers.

Im Herzen die Aggression, in der Hand die Atombombe

Günther Siegmund Stern, so der Geburtsname des 1902 als Sohn des jüdischen Kinderpsychologen William Stern geborenen Anders, hatte eine akademische Laufbahn anvisiert. Er hörte dazu in Freiburg bei Martin Heidegger, promovierte bei Edmund Husserl und scheiterte 1931 mit einer Habilitation an Theodor W. Adorno mit einer musikphilosophischen Arbeit – die erst 2017 postum publiziert wurde. Nach dem der Nationalsozialismus 1933 an die Macht kam, emigrierte Anders in die USA, kehrte nach dem Krieg aber nach Europa zurück.

Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bezeichnete der Technikkritiker als „monströs“. Daß der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation objektiv mehr herstellt, als er sich subjektiv vorstellen kann, lautete seine Folgerung von philosophisch-anthropologischer Tragweite. Verdichtet wird diese Aussage zur „Antiquiertheit des Menschen“, wie Anders’ Hauptwerk von 1956/1980 heißt. Der Mensch sei seiner eigenen Technik nicht gewachsen, er wird museumsreif und droht sich selbst auszulöschen. Konrad Lorenz brachte das später ganz ähnlich auf die Formel, der Mensch habe im Herzen den Aggressionstrieb, in der Hand die Atombombe.

Im Unterschied zu Lorenz konnte Anders noch die Nachwendezeit in Augenschein nehmen, in der die unvorstellbare atomare Drohung durch modernste Waffen fortbesteht. Als das Hauptaugenmerk der neuen politischen Lage nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erkannte der Technikkritiker in seinem letzten großen Interview mit Konrad Paul Liessmann bereits 1990 den Wiederaufstieg des Islam. Nuklearwaffen werden weiterverbreitet. Staaten wie Nordkorea oder der Iran sind Atommacht oder streben danach. Vom Risiko durch Terroranschläge auf Atomkraftwerke ganz zu schweigen.

Vom Recht, auf Denkmäler zu verzichten

Etwas befremdend wirkt in dem besagten Interview, daß Anders meinte, eine 1989 erfolgte Verständigung der Großmächte beruhe auf einem „wirtschaftlichen Zusammenbruch beider“. Es war doch der sozialistische Ostblock, der wirtschaftlich scheiterte, nicht der marktwirtschaftliche Westen. Der damals 78jährige Anders ging offenbar davon aus, es seien beide Systeme auf ökonomischer Augenhöhe gewesen.

Die Auffassung, daß der Westen ebenfalls wirtschaftlich scheitern werde oder kurz davor war, ist im Neomarxismus geläufig. Ökonomisches Denken schloß Anders bei seinen Betrachtungen ein und stützte sich auf Karl Marx. Vor diesem Hintergrund stellte Anders auch seine Überlegungen zum Militär an: „Es ist völlig unmöglich für die Amerikaner, nachdem sie um den halben Globus gefahren sind mit ungeheuren Mengen von Zerstörungswaffen, daß sie dann unverrichteter Dinge wieder zurückfahren.“

Ähnlich erklärte der Mann, dessen Arbeiten weiterhin Forschungsgegenstand sind, auch den Atombombenabwurf auf Nagasaki aus ökonomischer Sicht. Anders sah sich selbst als jemand, der Marx „fortgeführt“ habe. Die Hoffnung Blochs auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz hatte Anders zu jeder Zeit für weltfremd gehalten. Da war er dem Antitotalitarismus seiner ersten Ehefrau Hannah Arendt dann doch näher.

Der jüdische Remigrant faßte nie wieder Vertrauen in das Nachkriegsdeutschland. Nicht zufällig lebte der aus Breslau stammende Anders ab 1950 in Österreich. Die Wiedervereinigung betrachtete er mit Sorge und Skepsis. Bei ihm finden sich hierzu biographisch gefärbte Aussagen, aber seine psychologische Bildung ließ ihn zu Einsichten kommen, die bemerkenswert sind.

Das in Schutt und Asche gebombte Deutschland bedachte der Medienphilosoph in „Die Schrift an der Wand“ mit den Sätzen, daß einzelne Ruinen zu bewahren begrüßenswert sei, etwa die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, um nicht zu vergessen. Ansonsten müßten die Deutschen auch vergessen, sie hätten das Recht, „das Verwüstete fortzuräumen. Und auf Denkmäler zu verzichten“. Anders differenzierte zwischen Gedenken an Originalen und nachträglich errichteten Mahnmalen. Bei einem Original gedenkt der Betrachter dem materialisierten Geist aus der Vergangenheit; bei einem künstlichen Gebilde über eine bestimmte Vergangenheit handelt es sich hingegen um den materialisierten Geist des betreffenden Künstlers, nicht um ein Zeugnis der betreffenden Zeit. Hieraus spricht die, von Anders erneuerte, Phänomenologie der Ruine des Philosophen Georg Simmel.

Wie vielen Intellektuellen erschien US-Präsident Ronald Reagan Anders ungebildet. Starke Nerven aber hatte Reagan, mit denen er eine Politik des atomaren Kräftegleichgewichts gegenüber dem Sowjetkommunismus herbeiführte. Der US-Präsident von 1981 bis 1989 hat vielleicht die Menschheit vor der atomaren Apokalypse bewahrt, vor der Anders so eindringlich wie kein anderer Philosoph warnte. So schnell geht der antiquierte Mensch doch nicht per Knopfdruck unter. Die Weltlage bleibt indes hochexplosiv.

Ein Jahrhundertleben – Günther Anders:  www.guenther-anders-gesellschaft.org





Zu Risiken und Nebenwirkungen

Etwa 40.000 Haushalte haben bislang in Aachen Jodtabletten beantragt, weil Experten die Sicherheit belgischer Atomkraftwerke wie Tihange und Doel bezweifeln. Die Sicherheit des AKW Tihange sei wegen Tausender Mikrorisse an Meiler 2 umstritten. Doel wird wegen Sicherheitsbedenken bis Ende März 2018 vom Netz bleiben. Auch Terrorattacken auf AKW sind denkbar. Geplant und gebaut wurde die Mehrzahl der europäischen und amerikanischen Atommeiler von 1955 bis 1985. In einer Zeit also, da Terrorismusabwehr noch in keinem Bauplan eingearbeitet war. Der vormalige US-Präsident Barack Obama bezeichnete bereits 2009 „nuklearen Terrorismus“ als „die größte und extremste Bedrohung für die globale Sicherheit“. 24 Länder verfügen derzeit über Nuklarmaterial, das für den Bau von Atombomben geeignet ist. In jedem dieser Länder – von den USA über Rußland und Iran bis Nordkorea – gibt es Sicherheitbedenken.

Dokumentation „Terror: Atomkraftwerke im Visier“ beim Sender Arte:  www.arte.tv