© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Knapp daneben
Lesen ist keine Kernkompetenz
Karl Heinzen

Die Ergebnisse der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) liegen vor, und sie stellen unserem Land ein überraschend gutes Zeugnis aus. Trotz Migration, Inklusion und unablässiger Bildungsexperimente haben die Viertkläßler des Jahres 2016 das Niveau, das ihre Vorgänger 15 Jahre zuvor aufwiesen, in etwa halten können. Jeder zehnte von ihnen erbringt sehr gute Leistungen, wenn er sich mit Texten auseinanderzusetzen hat. Nur jeder fünfte versagt hier komplett. 

Der Dortmunder Schulforscher Wilfried Bos, der den deutschen Teil von IGLU verantwortet, mäkelt dennoch herum. 2001 hätten von insgesamt 47 untersuchten Staaten nämlich nur vier vor Deutschland gelegen. Heute sind es 20. Die Bundesrepublik rangiert unter „ferner liefen“ im Mittelfeld, auf Augenhöhe mit Kasachstan und der Slowakei. Aus dem Geplärr des hauptberuflichen Kindertesters spricht jedoch nicht eine ernstzunehmende Besorgnis, sondern die typisch deutsche Mischung aus Chauvinismus und Weltuntergangsstimmung. 

Wer mit Arbeitnehmern Geld verdienen möchte, soll gefälligst selbst für ihre Ausbildung aufkommen.

Viele Mitbürger geraten in Panik, wenn ihr Land irgendwo einmal nicht an der Spitze steht, sei es im Außenhandel, in der Digitalisierung oder hinsichtlich der Zahl von Patentanmeldungen. Sie glauben dann, daß es bald aus ist mit unserem Wohlstand und sehen ihre Altersversorgung in Gefahr. All die Kinder, die sich durch den IGLU-Test nicht haben stressen lassen, überragen sie an Lebensweisheit um Längen. So jung sie auch sind, spüren sie ganz genau, daß die Behauptung, man könne es durch Bildung zu etwas bringen, bloß eine Legende ist, die schon durch die Willkür der Notengebung widerlegt wird. Als Digital Natives wissen sie zudem, daß Lesen längst keine Kernkompetenz mehr ist. Die Alphabetisierungskampagnen des 19. Jahrhunderts sind im 21. Jahrhundert ein Anachronismus. Es mag ja sein, daß das eine oder andere Unternehmen auch in Zukunft noch Beschäftigte braucht, die lesen und schreiben können. Dies muß aber nicht die Sorge von Kindern, Eltern und Schulen sein. Wer mit Arbeitnehmern Geld verdienen möchte, soll gefälligst selbst für ihre Ausbildung aufkommen.