© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Heimat ist das Herkunftsland
Umfrage: Wissenschaftler verzeichnen eine wachsende Entfremdung Türkischstämmiger in Deutschland
Paul Leonhard

Das Verhältnis der in der Bundesrepublik lebenden rund 3,2 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln zu den Deutschen „könnte sich in absehbarer Zeit zu einer „sozialen Zeitbombe weiterentwickeln“. Der Integrationsprozeß stehe aktuell still oder entwickle sich möglicherweise sogar rückwärts. Zu dieser Erkenntnis ist Joachim Schulte gekommen, dessen Meinungsforschungsinstitut Data 4U im Auftrag des NDR eine Studie zur „Politisch-sozialen Situation türkischstämmiger Migranten in Deutschland“ erarbeitet hat. 

Dazu wurden 2.839 Menschen zu ihrem politischen Wahlverhalten, zum Stand der gesellschaftlich-politischen Integration sowie zu den Auswirkungen des politischen Konflikts zwischen der Türkei und Deutschland befragt. Von diesen gehörten 69 Prozent der ersten, 31 der schon in Deutschland geborenen zweiten und dritten Generation an. Trotzdem wurden 97 Prozent aller Interviews in türkischer Sprache geführt.

Die Ergebnisse der 141 Seiten umfassenden repräsentativen Studie, die auf zwischen dem 26. Oktober und dem 12. November 2017 durchgeführten Interviews beruht, haben es in sich. Das beginnt schon damit, daß lediglich 1.037 der Befragen die deutsche oder die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Was im Umkehrschluß bedeutet, daß 63 Prozent der Befragten nur die türkische Staatsbürgerschaft besitzen und höchstens rudimentär Deutsch sprechen. Entsprechend hoch ist die Heimatverbundenheit mit der Türkei.

Vier Fünftel der Interviewten verbinden den Begriff „Heimat“ stark oder überaus stark mit der Türkei (siehe Grafik). Besonders ausgeprägt sei das Heimatgefühl für die Türkei bei den älteren Befragten (ab 50 Jahre), unter geringer Gebildeten und bei Türkischstämmigen, die nicht außer Haus berufstätig sind. Lediglich bei elf Prozent ist das Heimatgefühl für die Türkei in den vergangenen Jahren schwächer geworden

Daß das Herz der allermeisten nach wie vor für und in der Türkei schlägt, ist aus Sicht von Studienleiter Schulte natürlich die Schuld des Gastlandes: „Deutschland hat es bislang nicht geschafft, ihr Herz zu gewinnen.“ Dazu kommt, daß den Türken etwas zugestanden wird, was die Deutschen nicht haben dürfen: Nationalgefühl. „Für sie ist der Begriff national sehr positiv belegt, und sie sind sehr stolz auf ihr Heimatland“, so Schulte gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk: „Bei einem Fußballspiel Deutschland gegen die Türkei würden nur zehn Prozent der hier lebenden Türkeistämmigen die Daumen für beide Mannschaften und nur ein Prozent für Deutschland drücken.“

Die Studie bestätigt die Ergebnisse einer ebenfalls von Data 4U erhobenen Befragung aus dem Jahr 2016 im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung in Bayern unter Migranten aus mehr als 20 verschiedenen Herkunftsländern. Auch hier wiesen die türkischstämmigen Migranten die höchste Rückkehrabsicht und die engste Anbindung ans Mutterland auf. Sie nutzten vor allem muttersprachliche Medien, verwendeten kaum die deutsche Sprache und beteiligten sich häufig noch an Wahlen im Herkunftsland.

Türken „besitzen ganz        eigene politische Weltsicht“

Obwohl die meisten Befragten das Leben, ihre Perspektiven und die soziale Sicherheit in Deutschland zu schätzen wissen, bleiben insbesondere die Älteren auf Distanz zur Mehrheitsgesellschaft und leben fast ausschließlich in ihrer Familie sowie unter Landsleuten. „Die Jüngeren haben in Ausbildung und Beruf zwangsläufig mehr Kontakte zur deutschen Gesellschaft, was dann auch mehr Raum für potentielle Diskriminierungen bietet“, interpretiert Schulte das Ergebnis, daß rund 23 Prozent der Befragten von Diskriminierungen aufgrund ihres ausländischen Namens oder ihrer ausländischen Herkunft, zehn Prozent sogar von ausländerfeindlichen Beschimpfungen oder körperlichen Angriffen berichteten. Die Bildung und damit auch die deutschen Sprachkenntnisse seien in den jüngeren Jahrgängen höher, „was sicherlich auch zu einer höheren Sensibilität gegenüber Diskriminierungen führt“.

Allerdings fühlen sich laut Studie 58 Prozent „bisher nicht diskriminiert“, und 81 Prozent wurden „noch nicht ausländerfeindlich angegriffen“. Vier Fünftel stimmen der Aussage zu, daß sie mit ihren deutschen Nachbarn und Kollegen gut zurechtkommen. Gleichzeitig sind 52 Prozent der Befragten der Meinung, daß sich der Umgang mit den Deutschen in den letzten Jahren verschlechtert habe. Als Gründe dafür werden vor allem die Streitigkeiten zwischen der deutschen und der türkischen Regierung und die mediale Berichterstattung genannt. Obwohl die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan durchaus kritisch gesehen wird, halten zwei Fünftel der Befragten die deutsche Medienkritik an Erdogan für „ganz und gar ungerechtfertigt“. Die volle Zustimmung zur Politik der deutschen Bundesregierung gegenüber der Türkei ist seit dem Putschversuch von 13 auf fünf Prozent gesunken.

Schulte attestiert den in Deutschland lebenden Türken, „ihre ganz eigene politische Weltsicht“ zu besitzen, „die auch stark durch die türkischen Medien geprägt ist, was oftmals für gegenseitiges Nicht-Verstehen“ sorgt. Auf die politischen Konflikte zwischen ihrem Heimat- und Gastland reagieren sie „noch mit einem Rückzug aus dem öffentlichen und politischen Leben“, allerdings führe dies auch zu „einer größereren Distanz zwischen Türkeistämmigen und Deutschen“, und die Politik Erdogans werde „Schatten auf das Zusammenleben der Türkeistämmigen untereinander“. Ersteres ist deutlich an der Wahlbeteiligung der 1,05 Millionen Wahlberechtigten bei den Bundestagswahlen zu sehen, die von 70 Prozent (2013) auf aktuell 53 Prozent fiel.

Laut Studie ist das ein erstes Indiz für einen Rückzug von „türkeistämmigen Migranten aus dem politischen Geschehen in Deutschland“. Verlierer ist dabei hauptsächlich die SPD. Zwar wird sie mit 45 Prozent noch immer stärkste Partei in dieser Wählergruppe, verzeichnet aber einen Rückgang von 17 Prozentpunkten.