© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Chinesische E-Fahrräder ohne Motor
Einfuhrkontrolle: EU-Rechnungshof deckt gravierende Mängel auf / Ausfälle durch Zollbetrug werden über Mehrwertsteuer ausgeglichen
Albrecht Rothacher

Zu den wenigen spannenden EU-Lektüren zählen sicher die Berichte des Europäischen Rechnungshofes. „50 Jahre Zollunion“ war der Jubeltermin, zu dem die Luxemburger Kontrollbehörde einen vernichtenden Prüfbericht ablieferte. Denn siehe da: Sehr viel liegt im argen, und niemand fühlt sich verantwortlich. Löchrig wie ein Schweizer Käse seien die Zollkontrollen an der EU-Außengrenze, witzelte Die Welt. Nicht nur bei unerwünschten Einwanderern, auch im Warenverkehr feiert die Illegalität fröhliche Urständ.

Da Zölle an die EU abgeführt werden müssen, wo sie mit 20 Milliarden Euro 14 Prozent des Brüsseler Etats ausmachen, sehen die Mitgliedstaaten wenige Anreize, gründlich zu kontrollieren. Umgekehrt sind den EU-Institutionen jene „Eigenmittel“, die der französische Präsident Emmanuel Macron und die SPD ausweiten wollen, ziemlich gleichgültig, weil sie die Ausfälle durch die „Zoll-Lücke“ per Mehrwertsteuerumlage automatisch einfordern können.

Schlupflöcher an der Zollgrenze gibt es viele. Beliebt ist das „Einfuhrpunkt“-Shopping: das Auswählen von Zollämtern, die sich auf das Durchwinken spezialisieren. Sie liegen meist in britischen Häfen, wo der Personalabbau in den Zollbehörden am stärksten spürbar ist. Jene Häfen erfreuen auch die Reeder: Sie kosten weniger Hafengebühren, brauchen geringere Löschzeiten, werden deshalb vermehrt von Frachtschiffen angelaufen und bringen so für beide Seiten mehr Umsatz und Geld. Die Kunden der Zollamtsmasche stammen meist aus Fernost. Sie geben die Warenwerte um 80 bis 90 Prozent niedriger an und lügen beim Ursprungsland, um Zölle und an der Mehrwertsteuer zu sparen.

Chinesische Textilien und Schuhe werden im Hamburger Freihafen angelandet, um sie dann als scheinbar aus Deutschland stammende Container in Dover zu verzollen. Dort läßt man, weil das Personal fehlt, die Ware unkontrolliert nach Osteuropa weiterreisen. Bei ihren seltenen Kontrollen ermittelte die EU-Betrugsbekämpfungsagentur (Olaf), daß der angegebene Warenwert für Baumwollhemden gelegentlich noch unter dem Preis von Rohbaumwolle lag.

„Zollfreie“ Produkte aus Bangladesch oder Vietnam

Importeure zahlen ihren Lieferanten dann den echten Preis: in bar im Rahmen ihrer chinesischen Netzwerke oder durch diskrete Gegengeschäfte im vertrauten Klan. Zur Umgehung von Anti-Dumping-Zöllen für Solarmodule wurden jene zwar zu Mindestpreisen importiert, dann aber mit Rückvergütungen und Rabatten an die Endnutzer in den Solarparks zum Schaden europäischer Hersteller verramscht. Bei anderen Solarimporten fand Olaf gefälschte Ursprungszeugnisse aus Japan und Malaysia, die von EU-Strafzöllen nicht betroffen sind.

Fahrräder aus China sind mit Anti-Dumping-Zöllen von 48,5 Prozent belegt – Elektroräder nicht. Daher werden die Tretesel zu E-Bikes umdeklariert. Daß auch echte E-Räder Sorgen bereiten, wenn ihre Akkus brennen und Parkhäuser entzünden, ist kein Fall für Olaf: Ein CE-Kennzeichen (Communautés Européennes) bestätigt nur (wenn es nicht ohnehin gefälscht ist), daß das E-Bike den EU-Richtlinien entspricht. Das vor 40 Jahren eingeführte GS-Zeichen (Geprüfte Sicherheit) ist hingegen nicht verpflichtend. Andere chinesische Fahrrad-Container werden in Malaysia und Singapur umgeladen und mutieren so zu „zollfreien“ Produkten aus Bangladesch, Vietnam oder Indonesien. Auf Amtshilfeersuchen reagieren die Südostasiaten laut EU-Rechnungshof (EuRH) nur unvollständig und mit starker Verspätung. Chinesische Behörden antworten fast nie und wenn, dann mit Unterlagen, die für Verwaltungsverfahren nicht taugen.

Auch bei Internet-Käufen aus Nicht-EU-Ländern wird gemogelt. Bei kommerziellen Sendungen gilt eine Zollbefreiung bis zum Warenwert von 22 Euro. Bei Geschenken unter Privaten liegt die Freigrenze bei 45 Euro. Bis zum Wert von 700 Euro werden Geschenksendungen pauschal mit einem Standardzolltarif von 2,5 Prozent belegt. Daher werden gewerbliche Sendungen aus den USA oder Fernost meist mit einem Wert von knapp unter 22 Euro oder als Geschenke deklariert – in der berechtigten Erwartung, an den überlasteten Zollämtern unbehelligt durchzuschlüpfen.

Der EuRH schätzt, daß allein durch die laxen britischen Kontrollen in den vergangenen drei Jahren zwei Milliarden Euro verlorengingen. Trotz der seit 1968 bestehenden Zollunion fehlt es nach wie vor an einem „harmonisierten Kontrollrahmen“. Aus dem Bürokratendeutsch in Klartext übersetzt: Es gibt kein einheitliches Verwaltungshandeln mit klaren Regeln für Kontrollen, Risikobeurteilungen und kein effektives Amtshilfeverfahren, das für alle Zolldienste verbindlich ist.

Wie bei allen Problemfällen setzt die EU statt durchzugreifen auf mehr Geld: Für ein sechsjähriges Schulungsprogramm der 28 Zolldienste wurden gerade 325 Millionen Euro ausgegeben. Das Folgeprogramm soll bis 2020 525 Millionen Euro kosten. Für die Betrugsbekämpfung bei der Zollabwicklung wurden 100 Millionen Euro für allerlei Gerätschaften ausgegeben. Bis 2020 sollen es noch einmal 105 Millionen sein. Viel gebracht haben die bisherigen Ausgaben dem Anschein nach nicht. Für die neuen Programme gilt einmal mehr das Prinzip Hoffnung gegen Erfahrung. Wie die Briten nach dem Brexit mit ihrer maroden, ausgedünnten Zollwache den sich multiplizierenden Arbeitsanfall in zwei Jahren bewältigen wollen, bleibt ebenfalls ihr Geheimnis.

Sonderbericht 19/17 des EuRH: www.eca.europa.eu/