© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Dem Volk aufs Maul geschaut
Im wiegenden Sechsachteltakt: Karl Kempters Pastoralmesse in G-Dur ist zur Weihnachtszeit bis heute vor allem im süddeutschen Raum populär
Markus Brandstetter

Am Heiligen Abend des Jahres 1851 sind im Augsburger Dom bereits Stunden vor Mitternacht Kirchenchor, Orchester und der Domkapellmeister Michael Keller hektisch am Proben. Am aufgeregtesten von allen jedoch ist der junge Domorganist Karl Kempter, denn in der Christmette wird jetzt gleich sein neuestes Werk, eine Pastoralmesse in G-Dur für Soli, Chor und Orchester, uraufgeführt werden.

Kempter hat bereits drei Messen immer, wie damals üblich, auf den lateinischen Propriums-Text komponiert und aufgeführt, aber sein heute zur Uraufführung kommendes Werk ist anders als die früheren: Das ist keine im altmodisch-strengen Kirchenstil komponierte Messe nach dem Vorbild von Joseph Haydn oder Mozart, sondern eine Messe für die Christmette, die einerseits an Streicher, Bläser und Sänger keine allzu hohen Anforderungen stellen und andererseits gut singbar sein und volkstümlich klingen soll.

Kempter weiß, wie Musik klingen muß, die technisch sauber komponiert und gut singbar ist, aber auch die breite Masse der Gottesdienstbesucher im katholischen Bayern und Österreich anspricht, denn er kommt selbst aus einem Dorf im bayerischen Schwaben. Der spätere Komponist und Kirchenmusiker wird am 17. Januar 1819 in Limbach bei Burgau geboren, damals ein Bauerndorf, das 50 Kilometer von Augsburg entfernt liegt. Kemper wächst in ärmlichen – er hat sechs ältere Geschwister – Verhältnissen auf, aber keineswegs in ungebildeten. Sein Vater ist Schullehrer, und für einen zukünftigen Komponisten ist ein solcher Vater ein glücklicher Zufall, denn im 18. und 19. Jahrhundert spielen Schullehrer oft in der Kirche aushilfsweise die Orgel, leiten den Kirchenchor und bringen den Schülern das Singen bei. Sie verstehen also meistens eine ganze Menge von Musik. Erstaunlich viele Komponisten sind deshalb die Söhne musizierender Schullehrer gewesen; die Reihe reicht von Schubert und Bruckner über Max Reger und Joseph Haas bis zu Johann Nepomuk David und Karlheinz Stockhausen.

Mit zwanzig Jahren ist er Domorganist

Als der Vater die musikalischen Talente seines Jüngsten erkennt, sorgt er dafür, daß ihm eine solide musikalische Ausbildung zuteil wird. Er schickt seinen Sohn, als der zwölf Jahre alt ist, nach Augsburg zu Michael Keller (1800–1865), dem Organisten und Chorregenten an der Augsburger Stadtpfarrkirche St. Ulrich und Afra. Keller ist kein engstirniger, frömmelnder Orgelspieler vom Land, sondern ein gründlich durchgebildeter Musiker und Komponist, der zu einer Zeit, als das noch keineswegs üblich ist, Werke der Renaissance-Komponisten Palestrina und Orlando di Lasso aufführt. 

Dieser Keller nun nimmt den jungen Kempter in eine harte Schule. Er lehrt ihn den Generalbaß nach dem Lehrbuch Johann Georg Albrechtsbergers und Kontrapunkt nach dem Handbuch Anton Reichas, eines Freundes Beethovens, der am Pariser Konservatorium auch der Kontrapunkt-Lehrer des großen Hector Berlioz war. Kempter lernt also von den Besten, und er macht schnelle Fortschritte. 1837, mit achtzehn Jahren, wird er an der Orgel von St. Ulrich und Afra der Nachfolger seines Lehrers, der inzwischen zum Organisten des Augsburger Doms berufen wurde. Als Keller zwei Jahre später zum Domkapellmeister ernannt wird, zieht er Kempter noch einmal nach, indem er ihn auf seine alte Stelle als Domorganist hievt.

Mit seinen erst zwanzig Jahren hat Kempter es weit gebracht: Er ist die Nummer zwei in der Augsburger Kirchenmusik und Musiklehrer am Augsburger St. Stephanstift, dem heutigen Gymnasium bei St. Stephan. Das bringt Ansehen mit sich und bedeutet finanzielle Sicherheit, die es Kemtper erlaubt, zu heiraten und sich nebenher intensiv dem Komponieren zu widmen.

Als die Pastoralmesse in G in der Weihnachtsnacht des Jahres 1851 zum ersten Mal erklingt, da weiß Kemtper noch nicht, daß er einen kirchenmusikalischen Hit gelandet hat. Aber das Werk verbreitet sich schnell im ganzen süddeutschen Raum, und dafür gibt es zwei Gründe: Der erste liegt in der Instrumentation und der leichten Spielbarkeit. Kempter hat seine Messe für Beethoven-Orchester instrumentiert. Trotz Wagner, Liszt und Berlioz, die längst viel größere Orchesterbesetzungen verlangen, stellt das Beethoven-Orchester die damals immer noch gängige Standardbesetzung für ein Symphonieorchester dar; sie besteht aus dem obligatorischen Streichquintett, Pauken und jeweils paarweise besetzten Hörnern, Trompeten, Fagotten, Klarinetten, Oboen und Flöten. Kempter verzichtet jedoch auf Oboen und Fagotte, weil er weiß: auf den Dörfern und in kleinen Städten gibt es weder Oboen noch Fagotte, Hörner, Trompeten und Klarinetten aber überall, denn über die verfügt jede Blaskapelle.

Die Pastoralmesse in G stellt an die technischen Fähigkeiten der Instrumentalisten überschaubare Anforderungen; sie kann auch von talentierten Laien gut aufgeführt werden. Schwächeln ein paar Instrumente, was in der Kälte der Christnacht und der allgemeinen Aufregung schon einmal passiert, dann kann das durch den Organisten, der sowieso sämtliche Stimmen mitspielt, problemlos ausgeglichen werden. Vergleichbare und nicht minder beliebte Pastoralmessen von Mozart (KV 140) und Anton Diabelli (Op. 147) sind bereits deutlich schwerer zu singen und zu spielen.

Romantische Harmonik und gute Singbarkeit

Das aber, was der Pastoralmesse ganz besonders ihre bis heute andauernde Popularität gesichert hat, ist ihre Schubertsche Melodik, die romantische Harmonik und die gute Singbarkeit der Soli. Besonders klangschön sind das Kyrie und das Sanctus, die beide im wiegenden Sechsachteltakt der Siciliana stehen, einem Tanz-Satz aus dem Barock, der durch seinen lieblichen Melodieverlauf den Charakter eines Hirtenidylls heraufbeschwört.

Karl Kempter hat den breiten und andauernden Erfolg seiner Messe nicht mehr erlebt. Er erlitt mit 46 Jahren einen Schlaganfall und mußte 1867 sein Amt als Domkapellmeister aufgeben; 1871 ist er krank und vereinsamt gestorben. Aber die Pastoralmesse in G ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der dem Volk auf das Maul schaut und die Frömmigkeit der katholischen Landbevölkerung versteht und in Musik umsetzt, damit bis heute Erfolg haben kann.