© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Die Flüchtlingskrise aus psychoanalytischer Sicht
Nation im Negativ
Hubert Speidel

Im Rückblick auf die europäische Geschichte lassen sich Zeiten erkennen, die durch befremdliche, ja extreme Denk- und Verhaltensweisen großer Teile der Bevölkerung gekennzeichnet sind und denen wir heute voller Unverständnis gegenüberstehen. Als ein Beispiel wäre das Ende des Mittelalters mit seiner prägenden Angst vor dem Jüngsten Gericht zu nennen. Diese „Höllenangst“ sollte durch religiöse Kompensationsleistungen, etwa Pilgerfahrten, den Kauf von kostbaren Reliquien oder asketische und selbstverletzende Übungen überwunden werden. Die psychoanalytische Betrachtung dieses zum Teil existenzgefährdenden Verhaltens hat zu einem vernunftgemäßen Verständnis beigetragen.

Das Verhalten der Bundesregierung und der bundesdeutschen Bevölkerung unterschied sich in der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 von dem der anderen europäischen Staaten. Vor dem Hintergrund des gemeinsamen Wertesystems der Europäischen Union stellt sich die Frage: Was kennzeichnete dieses einzigartige Verhalten? Wie läßt es sich verstehen? Und kann die psychoanalytische Betrachtung einen Beitrag zum Verständnis dieses Verhaltens leisten?

Es zeigt sich, daß die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung  nicht nachhaltig ist. Weder ihrem Anspruch, den politisch Verfolgten Asyl zu gewähren, noch denjenigen zu helfen, die in schwerste Notlagen geraten sind, wird sie gerecht. Im Gegenteil: Die für die Hilfe der wirklich Notleidenden notwendigen Ressourcen werden für die Alimentierung und aufwendige Integrationsprogramme Weniger verbraucht.

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, warum die Bundesrepublik im Gegensatz zu den anderen Ländern gegen ihre eigenen Interessen und gegen die Interessen der wirklich Notleidenden und politisch Verfolgten handelt. Es gibt dafür weder eine moralische noch eine rechtliche, noch eine politisch vernunftgemäße Begründung.

In der Psychoanalyse wird der gesunden Entwicklung des Selbstgefühls als ein eigenes System große Bedeutung zugeschrieben und dessen Problematik in das therapeutische Kalkül einbezogen. Analoges gibt es auch in kulturellen und politischen Gemeinschaften. Ein stabiles und selbstbewußtes Nationalgefühl ist für das Gedeihen eines Volkes von zentraler Bedeutung. In Deutschland ist es durch ein nationales Kollektivschuldintrojekt (also kollektiv verinnerlichte Werte), das auf der Verarbeitung der Niederlage des Zweiten Weltkriegs und der Grausamkeiten unter dem Nationalsozialismus mit dem Massenmord an den Juden und den politisch Verfolgten basiert, so sehr zerstört worden, daß Nationalgefühl mit Nationalismus als pathologischer Zuspitzung verwechselt wird und alle Vertreter nationalen Denkens als Rechtsradikale und Rechtspopulisten verunglimpft werden. Es entwickelt sich ein pathologisches Verhältnis zum Nationalen, als dem Subjekt von gemeinsamer Sprache, Kultur und Geschichte.

Die reparativen Aktivitäten des kollektiven narzißtischen Systems nach Niederlagen sind vor allem auch eine Funktion der Schwere seiner Verletzungen. Dies kann verdeutlicht werden am Beispiel der Versailler Verträge nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Deutschland war allein schuldig gesprochen und schwer bestraft worden. Kollektivschuld­urteile, wie sie hier ausgesprochen wurden, haben unterschiedliche Folgen je nach Zustand der Selbstwahrnehmung des Kollektivs, dem die Zuschreibung gilt, und der Existenz stabilisierender Gegenkonzepte. Die europäische Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg wäre wohl anders verlaufen, wenn die Siegermächte mit den Unterlegenen so nobel und politisch klug verfahren wären wie der Wiener Kongreß mit den besiegten Franzosen.

Die autodestruktive, kollektive Vorstellung von Wertlosigkeit und Gefährlichkeit und der Verlust der tradierten positiven Werte­prinzipien erzeugt und fördert in der solchermaßen geschädigten nationalen Gemeinschaft eine masochistische Moral.

Die Selbstwahrnehmung eines Kollektivs wird durch hinreichende, den nationalen Narzißmus stabilisierende Konzepte gestützt, was immer auch ein hohes Maß an flankierender historischer Verleugnung voraussetzt. Hierdurch wird die Kollektivschuldzuschreibung nicht wirksam, wie zum Beispiel im Falle der massenhaften Morde im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, der Ermordung der Armenier durch die Türken und Kurden, die Massaker im Rahmen des stalinistischen Terrors etc. Diese Morde haben der positiven Selbstwahrnehmung, dem jeweiligen nationalen Narzißmus nicht geschadet.

Sind solche den kollektiven Narzißmus stützende Konzepte beschädigt, aber noch vorhanden wie beispielsweise in Deutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, so können sich reparative Tendenzen gegen die Übernahme von Kollektivschuldvorwürfen und deren materielle und immaterielle Folgen durchsetzen, was im Falle Deutschlands die Etablierung einer Diktatur begünstigte. Ian Kershaw hat darauf hingewiesen, daß es nach dem Ersten Weltkrieg nur den Siegerländern und den neutralen Staaten gelang, Demokratien zu etablieren. In den besiegten Ländern dagegen bildeten sich Diktaturen heraus (Ian Kershaw: „Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“, München 2016). Dazu gehörte auch Italien, das zwar zu den Siegern gehörte, sich aber als Verlierer erlebte. Kluge Köpfe hatten damals vorausgesehen, daß der nächste Krieg wegen des Versailler Diktats höchst wahrscheinlich werde.

Ist die Niederlage zu schwer und steht ihr kein stabilisierendes Konzept im Sinne der Schuldabwehr zur Erhaltung des nationalen Narzißmus und der ihn flankierenden Verleugnung entgegen, so kann der Schuldvorwurf in das Innere der kollektiven Selbstwahrnehmung dringen. Er wird damit zum Bestandteil des nationalen Selbstkonzeptes und entwickelt sein aggressives Potential der kollektiven Autodestruktion. Diese Situation ist kennzeichnend für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum heutigen Tage. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise 2015 ist ohne die schuldgefühlbelastete Rezeption der neueren deutschen Geschichte nicht verständlich.

In Deutschland fand das für die moralische Kohärenz notwendige verleugnend-idealisierende kollektive Abwehrverhalten nicht Halt und Resistenz, und so drang die moralische Destruktion auch infolge der Wahrnehmung der für die meisten erst nach dem Krieg erkennbaren Fülle von Verbrechen ungehindert in das allgemeine Bewußtsein ein, prägte es nachhaltig und zerstörte so das Bewußtsein der Werte der gesamten nationalen Geschichte. Der zentrale und wichtigste Bestandteil dieser Konstruktion ist die Kollektivschuld, das Negativ des kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls, das eine positive Identifizierung des Individuums mit der eigenen Nation verhindert.

Ist die Kollektivschuld wie im Nachkriegsdeutschland ein Bestandteil des nationalen Selbstkonzeptes geworden, so kann man analog zu den individuellen psychischen Prozessen von einem kollektiven malignen Introjekt sprechen (also von kollektiv verinnerlichten negativen Werten). Dieses autodestruktive Introjekt, also die kollektive Vorstellung von Wertlosigkeit und Gefährlichkeit und der Verlust der tradierten positiven Werte­prinzipien, erzeugt und fördert in der solchermaßen geschädigten nationalen Gemeinschaft eine masochistische Moral. Ihre Modalitäten sind unaufhörliche Schuldbekenntnisse und Bußrituale, die nationale Selbsterniedrigung und die Bereitschaft zu Wiedergutmachungs­angeboten, wie es bei mißhandelten Kindern auch geschieht.

Eine derartige Moralpathologie besitzt große Dauerhaftigkeit, weil sie mit vielfachen Belohnungen verknüpft ist: Die moralische Haltung schafft deren Vertretern ein großes moralisches Überlegenheitsgefühl und rettet außerdem in der Selbsterniedrigung eine pathologische Form nationaler Kohärenz. Die Selbsterniedrigung ist aber gleichzeitig auch das Mittel der Verschleierung dieses Überlegenheitsgefühls. Sie bringt zu ihrer Erhaltung das Opfer materieller Ausbeutbarkeit.

Für die Zukunft der Bundesrepublik ist es essentiell wichtig, die existenzgefährdende autoaggressive Verhaltensweise zu überwinden. Es geht um das Ja zur eigenen Nation, damit wir mit all unseren Fähigkeiten die eigene nationale Zukunft gestalten.

Eine solche Haltung der Ausbeutbarkeit genießt verständlicherweise eine große Anerkennung derjenigen, die Nutznießer dieser Haltung sind. Da sich die Aggression gegen das eigene Kollektiv wendet, bekommt diese Haltung wegen ihrer scheinbaren Harmlosigkeit viel Anerkennung von seiten potentieller und ehemaliger Gegner.

Die kollektive masochistische Moral – wir sind ein gefährliches, für die Diktatur anfälliges, barbarisches Volk, das vor sich selbst geschützt werden muß und hierfür das Nationale abstreift – läßt sich als Abwehrmechanismus begreifen, der anderen Ländern die beruhigende Außenseite der Selbstdestruktion einschließlich materieller Opfer anbietet. Dahinter entwickelt sich eine grandiose Moralposition, deren Arroganz durch die demutsvolle Schauseite verborgen wird.

Der Triumph des moralischen Masochismus mit seiner moralischen Überlegenheitsattitüde zeigte sich in der unkontrollierten Einwanderung der Immigranten im Sommer und Herbst vor zwei Jahren. Die zentralen Merkmale der Kollektivschuldfolgen kommen hier vor:

1. Wir dürfen niemanden abweisen, weil wir ein schuldiges Volk sind.

2. Wir dürfen unser nationales Gemeinwohl nicht schützen, weil wir schuldig sind und Wiedergutmachung leisten müssen.

3. Mit unserer masochistischen Hypermoral (Arnold Gehlen) können wir unseren geheimen Sadismus am gequälten eigenen Volk wie auch an den Nachbarländern ausleben, das beziehungsweise die sich gegen die destruktiven Konsequenzen der Hypermoral wehren.

4. Wer sich dagegen zu wehren versucht, also nicht den moralischen Masochismus ausleben will, wird mit dem vernichtenden Urteil des „Rassismus“ und der Unmenschlichkeit bestraft.

 Schließlich entwickelt eine Gesellschaft infolge des malignen Introjektes der Kollektivschuld und der scheinbar grenzenlosen Friedfertigkeit sadistische Züge. Masochismus und Sadismus sind Geschwister, und wo Masochismus, verborgen in seinen honorigen Verkleidungen wie Antinationalismus, Politischer Korrektheit, „Antifaschismus“ und anderes mehr blüht, ist sein sadistisches Pendant nicht weit. Es ist die unausweichliche Folge der Übernahme der Kollektivschuld in das nationale Bewußtsein und ihrer moralischen Repräsentanz, daß ein vernunftgemäßer wissenschaftlicher Diskurs, der die neurotische Phantasiewelt in Frage stellt, nicht zugelassen werden darf. Denn Kollektivschuld und moralischer Masochismus bedürfen zu ihrer Aufrechterhaltung einer Verdrängung und Verleugnung, und deren Gegner müssen mit denselben totalitären Haltungen und dazu passenden Methoden bestraft werden, die dem bekämpften Weltbild zugeschrieben werden.

Für die Zukunft der Bundesrepublik ist es essentiell wichtig, die existenzgefährdende autoaggressive Verhaltensweise aufzuarbeiten und zu überwinden. Es geht um das Ja zur eigenen Nation trotz aller Schuld, damit wir mit all unseren Fähigkeiten die eigene nationale Zukunft gestalten und den wirklich Hilfebedürftigen zur Seite stehen können, wie es unsere Pflicht ist. Dieses Ja zu sich selbst trotz aller Schuld als Voraussetzung zur Fürsorge für den Nächsten hat seine jüdisch-christlichen Wurzeln in der Aussage: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (3. Mose 19,18; Markus 12, 31; Galater 5,14).






Prof. Dr. med. Hubert Speidel, Jahrgang 1934, ist Nervenarzt und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker (DPV, IPA, DGTP). Er war von 1983 bis 2001 Lehrstuhlinhaber für Psychosomatik und Psychotherapie und Direktor der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum der Christian-Al­brechts-Universität zu Kiel. Seither ist er in eigener Praxis tätig. Zu Speidels Forschungsinteressen gehören Ideologiebildung und psychoanalytische Biographik.

Foto: Verdüstertes Land: Ein stabiles und selbstbewußtes Nationalgefühl ist für das Gedeihen eines Volkes von zentraler Bedeutung. Deutschland hingegen ist von einem kollektiv pathologischen Verhältnis zum Nationalen belastet