© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Pankraz,
James Scott und der Zorn aufs Getreide

Einiges Aufsehen macht zur Zeit das Buch des bekannten australischen Bergsteigers und Naturfreunds James Scott, „Against the Grain“ („Gegen das Getreide“). Es ist eine ausgedehnte und geradezu ingrimmige Attacke gegen Ackerbau und Viehzucht, wie man sie noch nie hat lesen können. Unendlich viel, ätzt Scott, wäre der Erde und uns Menschen erspart geblieben, wenn wir beim Jagen und Sammeln geblieben wären. Der Übergang zur „Landwirtschaft“ sei die Ursünde der Menschheit gewesen und der Anfang ihres Untergangs.

Scott stellt sich provozierend quer zur Meinung faktisch sämtlicher bisheriger Paläontologen und Kulturhistoriker, die den Übergang von der Jagd zur Landwirtschaft als den Beginn der modernen Menschheit feiern. Scott nennt ihn stattdessen den „Absturz in die selbstgestellte Falle der Bequemlichkeit“. Landwirtschaft, argumentiert er, verlange doch viel mehr Arbeit und führe zu viel mehr physischen Leiden als die Jagd. „Und je weiter wir forschen“, behauptet er, „um so besser erscheint die Ernährung der Jäger und Sammler für die Gesundheit und die Work-Life-Balance.“

Pankraz erscheinen solche Behauptungen etwas allzu riskant, um das Mindeste zu sagen. Die Urmenschen und ersten Landwirte jedenfalls, die ihre Vorstellung von „Work-Life-Balance“ ja wohl aus unmittelbarer praktischer Erfahrung speisten, waren offenbar anderer Meinung. Pflanzen und Tierhegen, so erfuhren sie, war ertragreicher und weniger aufwendig als Jagen und Sammeln. Und es war „gesünder“, verschaffte Sicherheit, ersparte gefährliche Begegnungen mit Mammut oder Säbelzahntiger und ermöglichte kontinuierliche Vorratshaltung, schützte besser vor Hunger.


Die von Scott hervorgehobene Reduzierung der „Artenvielfalt“ bei den Lebensmitteln, die durch den Übergang zu Ackerbau und Viehzucht eingetreten sei, reitet auf einem Scheinproblem herum. Der Mensch kann sich durchaus gesund ernähren, indem er sich sein Leben lang an einige wenige Grundformen von Nahrung hält, Reis und Roggen, Hühner- und Rinderfleisch, Fisch … Wichtig ist letztlich die Form der Zubereitung: roh oder gekocht, gebraten oder gegart, gewürzt oder ungewürzt …

Claude Levi-Strauss hat darüber alles Grundsätzliche gesagt. Der Übergang von der Jagd zur Landwirtschaft verschaffte den frühen Bauern und Züchtern Zeit und Gelegenheit zum gleichsam intimen Umgang mit der Natur, zum genauen Beobachten der Wechselwirkung zwischen Mensch und Nahrung. Es entstand das, was man heute „Küche“ nennt, und Levi-Strauss hatte völlig recht, als er die erstaunliche  „intuitive Intelligenz“ dieser Ur-Küche rühmte, die in bezug auf Vitamine, Mineralien und andere Wirkstoffe spontan meistens richtiglag und ihre Kräuterbeigaben exakt danach ausrichtete.

In der Jägerzeit hat es – nach allem, was wir zu wissen glauben – keine Küche und keine Köche gegeben; statt ihrer regierten die Schamanen, und denen war es nicht um Tier- und Pflanzenhege und um Zubereitung zu tun, sondern einzig um Beutefang. Nahrungsbeschaffung war Kampf gegen einen Gegner, der zunächst einmal besiegt werden mußte, bevor man ihn schlachten und essen konnte – und durfte. Er war in jedem Falle gleichrangig mit seinem menschlichen Überwinder, oft ihm sogar überlegen, den Göttern näher oder gar selber ein Gott.

Viele der schamanischen Vorbereitungen zu einer Jagd liefen darauf hinaus, sich bei dem  Gejagten regelrecht zu entschuldigen, ihn oder den hinter ihm stehenden Gott feierlich um Verzeihung zu bitten für das Opfer, das man ihnen zumutete. Auch der Ursprung der bildenden Künste liegt nach Auskunft vieler Paläontologen hier im urzeitlichen Jagdzeremoniell: Im Abbilden, der vorwegnehmenden Verdopplung des Seins, sah man eine in die Zukunft hineinwirkende Kraft, und so wurde der Jagdvorgang zunächst einmal künstlich-künstlerisch abgebildet, bevor man realiter zur Jagd aufbrach.


Altsteinzeitliche Höhlenbilder (und zwar nicht nur die weltberühmten Höhlenbilder von Lascaux) sind – wie die Archäologie längst überzeugend dargelegt hat – ganz überwiegend keine Angstmach-Bilder von irgendwelchen bösen Geistern, sondern es sind ganz praktisch gemeinte Jagdbilder, anschauungskräftige Tierporträts vor allem von Bisons und Mammuts. Die lebendige Kreatur wurde da ins Bild gebannt, um das reale Leben der Menschen zu heiligen und zu  erleichtern.

James Scott sagt freilich, die Lascaux-Bilder seien „vielleicht“ nur zum Teil Jagdbilder, zum anderen Teil jedoch „mit Sicherheit“ schon Landwirtschaftsbilder gewesen, die gerade den Übergang zu Ackerbau und Viehzucht versinnbildlichten. Ursprünglich freie, „wilde“ Tiere wurden zunächst ins Bild gebannt, um anschließend um so gründlicher „gezähmt“ werden zu können. Sie würden so dem menschlichen Machtwillen total unterworfen, in enge Regelställe und Legebatterien gesperrt, nur um am Ende aufgefressen zu werden. Und als Preis dafür werde sich der Mensch schließlich selbst auffressen.

Tröstliche Lichter in seiner finsteren Dystopie sieht der Bergsteiger James Scott nicht, höchstens Absturzmöglichkeiten, die die vor sich hinschwärende Misere früher beenden könnten. Die Menschheit habe sich schon zu sehr vermehrt und zu viele Tierarten ausgerottet, um das Ruder noch einmal zurückwerfen zu können. Und neuerdings sei sie auch noch dabei, sich geistig überflüssig zu machen und sich durch algorithmisierende Computer ersetzen zu lassen. Da sei nichts mehr zu machen.

Nun gut, weshalb soll ein Schriftsteller nicht auch einmal als totaler Schwarzseher Erfolg haben? Weshalb aber der merkwürdige Buchtitel „Against the Grain“? Was kann das Korn dafür, daß es auch schlimmste Versager so lange am Leben erhält?  Algorithmen werden die Erde gewiß nicht retten, vielleicht aber irgendwie das unverdrossen blühende Korn jenseits der großen Städte. Die Hoffnung stirbt zuletzt.