© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Begriffliche Wertungen und anthropologische Grundwahrheiten
Die Begriffe richten
Friederike Hoffmann-Klein

Progressiv, fortschrittlich versus rückwärtsgewandt; modern versus überholt: Es sind die immer gleichen Begriffe, die gebraucht werden, um die moralische Haltung „der Guten“ von derjenigen „der Schlechten“ abzugrenzen. Es stellt sich jedoch die Frage, mit welchem Recht die linksliberale Szene die positiven Adjektive allein für sich in Anspruch nimmt.

Richtig ist, daß der Begriff „progressiv“ in einer bestimmten Weise besetzt ist. In zeitlich-formaler Hinsicht läßt sich eine solche Zuschreibung vielleicht vornehmen, denn Tatsache ist, daß unsere Zeit durch bestimmte Positionen gekennzeichnet ist, die sich mehr und mehr durchgesetzt haben, zum Mainstream geworden sind. Das aber beantwortet noch nicht die Frage, ob eine solche Etikettierung auch inhaltlich gerechtfertigt ist. Liegt nicht in der Inanspruchnahme des Merkmals „progressiv“ für die eigene Position eine gewisse Arroganz?

Kein Thema eignet sich als Beispiel für dieses Phänomen so gut wie das Mütterthema. Ich habe erlebt, wie Frauen allein deshalb als vormodern betrachtet wurden, weil für sie die Mutterrolle kein Problem darstellt. Diese Frauen dürfen, aus Sicht der Progressiven, auf keinen Fall für sich in Anspruch nehmen, ebenfalls modern zu sein. Ähnliches scheint für religiös verankerte Menschen zu gelten.

Ist es nicht erstaunlich, wie sich in unserer liberalen Demokratie immer mehr eine gewisse Einheitlichkeit des Denkens durchsetzt? Das Paradigma einer linksliberalen Weltanschauung führt bisweilen dazu, daß der liberale Charakter dabei mehr und mehr verlorengeht. In ihrer Eröffnungsrede auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin (FAS, 9. September 2017) betonte die türkische Schriftstellerin Elif Shafak die Überwindung von Religion, Sexismus, Nationalismus sowie das Eintreten für „Frauenrechte“. Und sie stellt einen unabdingbaren Zusammenhang zwischen diesen Rechten und dem Bestehen einer Demokratie her. Nur können wir hier beispielsweise danach fragen, was denn mit Frauenrechten gemeint ist? Haben Frauen bislang keine Rechte? Gemeint ist damit natürlich die „reproduktive Selbstbestimmung“, das heißt, die Freigabe der Abtreibung. Eine Sichtweise, bei der Frauen in der Opferrolle gesehen werden. Für Ungeborene beispielsweise soll das nicht gelten. Diese Forderungen nach einer Überwindung der Ausprägungen einer angeblich rückständigen Weltsicht sind Ausdruck eines sich als progressiv-liberal verstehenden Denkens, das auf die Überwindung angeblich überholter Denkmuster abzielt.

Aus dieser Perspektive wird klar, weshalb es von einem Mann wie Donald Trump heißt, er mißachte Frauenrechte. Denn Sexismus ist auch so ein „Gespenst“, das nicht fehlen darf in diesem Kontext. Das herbeizitiert wird, sich aber bei näherer Betrachtung schnell als leere Hülle erweist. Sexismus liegt aus einer solchermaßen verengten Perspektive bereits dann vor, wenn ein Mann Frauen mag, weil sie Frauen sind. Absurd, kann man denken. Aber inzwischen durchaus Realität.

Macht nicht genau dies den Kern von Demokratie aus, daß es nicht nur eine richtige Meinung gibt? Meinungen dürfen nicht nur unterschiedlich, ja kontrovers sein. Es sind auch solche Meinungen schützenswert, die verletzen, schockieren oder beunruhigen.

Dahinter steht stets ein einfaches Prinzip. Der Gegner soll ins Unrecht gesetzt werden – nicht mit Argumenten, sondern mit Phrasen, mit Schlagworten, mit erfundenen Behauptungen. Eine Gleichschaltung des Denkens, die gerade auch Intellektuelle befallen kann. Man denke an die zahlreichen GenderLehrstühle, die es inzwischen gibt, allein an deutschen Universitäten etwa 250. Hinzu kommen weitere Forschungseinrichtungen, die sich diesem angeblich so wichtigen Thema widmen, das außerhalb des akademischen Bereichs keine wesentliche Rolle spielen dürfte. Ebenso wie die Religion wird auch die Liebe zur Heimat (Verdacht auf Nationalismus) als Hindernis des Fortschritts gedacht.

Diese Schlagworte, die heute einen speziellen Klang haben, beschreiben für die zitierte türkische Schriftstellerin Shafak nicht nur den Fortschritt gegenüber der von ihr befürchteten oder auch herbeigeredeten Rückständigkeit. Sie sind für sie conditio sine qua non der Demokratie. Wird damit nicht unser herkömmliches Verständnis von Demokratie gewissermaßen auf den Kopf gestellt? Lebt Demokratie nicht von der unterschiedlichen Meinung vieler? Schief ist ein solches Verständnis auch deshalb, weil die Begriffe zuvor einseitig gefärbt wurden. Und damit jeglichem anderen Verständnis etwa darüber, was Frauenrechte sein können und was sie nicht sind, abgesprochen wird, in einer Demokratie Gültigkeit zu besitzen.

Aber macht nicht genau dies den Kern von Demokratie aus, daß es nicht nur eine richtige Meinung gibt? Meinungen dürfen nicht nur unterschiedlich, ja kontrovers sein. Es sind auch solche Meinungen schützenswert, die „verletzen, schockieren oder beunruhigen“, so hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer grundlegenden Entscheidung bestätigt (Richard Handyside gegen Vereinigtes Königreich, Straßburg, 7. Dezember 1976, Band A Nr. 24).

Das Künstliche an der beschriebenen Haltung zeigt sich auch am Beispiel des früheren US-Präsidenten Obama, der vielen als das Symbol für Fortschrittlichkeit gilt, die unter Donald Trump, der nun vor bald einem Jahr vereidigt wurde, verlorengegangen sei. Doch ist dies nicht nur scheinbare Demut? Der langjährige US-Diplomat Todd Huizinga erwähnt in seinem Buch „Was Europa von Trump lernen kann“ eine Rede Obamas, die dieser nach seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten am 3. Juni 2008 gehalten hat und in der er seine künftige Regierung als den Beginn eines neuen Zeitalters beschreibt. Alles andere als Ausdruck von Bescheidenheit. Auch in manchen seiner öffentlichen Auftritte nach der Amtsübergabe – etwa auf dem Evangelischen Kirchentag in Deutschland – kommt zum Ausdruck, daß er sich selbst in der Rolle des Fortschrittlichen sieht. Betrachtet man seine öffentlichen Ansprachen, sein Auftreten genauer, so läßt sich darin ein gewisses Maß an Überheblichkeit durchaus erkennen. Hier der Gute, der bescheidene Weltverbesserer – dort Trump, der Rückständige.

Dabei gibt es durchaus Handlungen Trumps, die man, mit gutem Recht, als die Grundlage für ein positives Fortschreiten erkennen könnte. Er hat mit Neil Gorsuch einen hochqualifizierten (Pro life-)Richter eingesetzt, der für die Unabhängigkeit der Verfassung eintritt, er hat den jährlichen „March for Life“ in Washington D. C. unterstützt durch die dortige Rede des Vizepräsidenten Mike Pence und seiner Mitarbeiterin Kellyanne Conway. Er hat, wie alle demokratischen Präsidenten nach Ronald Reagan, die Mexico City Policy wieder eingesetzt und sogar erweitert, wonach Mittel für Organisationen, die weltweit Familienplanung fördern, gestrichen werden – unter Trump betrifft dies einen Etat von acht Millionen US-Dollar. Im Gedenkmonat des Down-Syndroms in den USA, im Oktober vergangenen Jahres, sprach Trump über die Liebenswürdigkeit der betroffenen Menschen. Wer mag das kritisieren?

Der vermeintliche Fortschritt beansprucht dieses Etikett zu Unrecht. Er ist kein wirklicher. Er propagiert die schrankenlose Freiheit auf Kosten anderer und auf Kosten der Wirklichkeit. Bis hin zur Absurdität der freien Wahl des eigenen Geschlechts. Freiheit unter Verletzung der Rechte anderer hört immer auf, Freiheit zu sein. Obama ist deshalb so beliebt, weil er für diese „schöne“ neue Ordnung steht, Trump jedenfalls auch aus dem Grunde unbeliebt, weil er sie in Frage zu stellen scheint.

Das Streben nach Progressivität hat das Vakuum ausgefüllt, das die Wahrheitsfrage gelassen hat. Christen etwa glauben an zeitlose Wahrheiten, wie wir sie uns in diesen Tagen vergegenwärtigt haben. Und zeitlos, bedeutet das nicht immer auch Avantgarde?

Vollkommen verdreht wird es, wenn die „progressive“ Seite über eine angeblich bedrohte Meinungsfreiheit klagt. Wer heute für Familie, Ehe, Elternrechte eintritt, kann dies manchmal nur noch unter Polizeischutz und massiver Bedrohung seitens vermeintlich Liberaler tun. Schlimm genug wäre bereits, wenn die eine Seite die andere auf die skizzierte Art und Weise an der Kundgabe einer Meinung behindern würde, denn eine Meinung ist ja nicht per se wertvoller als eine andere. Und es wäre jedenfalls das genaue Gegenteil von Toleranz, die eine Seite offenbar nur fordert, aber selbst nicht zu geben bereit ist. Daß es hier nicht allein um die Frage unterschiedlicher Meinungen geht, sondern daß auch eine objektive Dimension berührt ist, sei nur am Rande angedeutet.

Die Achtung vor jedem Menschen, unabhängig beispielsweise von seiner sexuellen Orientierung oder ethnischen Herkunft, wird als Konsens des herrschenden Universalismus gesehen. Dabei sind universalistische Prinzipien gemeint, die zu vertreten der linksliberale Mainstream vorgibt (zum Beispiel FAS vom 1. Oktober 2017, „Es reicht nicht zu sagen, das gehört sich nicht!“ von Mark Siemons). Aber ist nicht genau das ureigene Lehre des Christentums? Eine Selbstverständlichkeit.

Achtung vor der Würde eines jeden kann jedoch nicht bedeuten, daß alles gleichermaßen gültig und damit letztlich auch gleich-gültig wird, daß sich anthropologische Grundwahrheiten ändern. Wer Ehe und Familie als Grundlage einer Gesellschaft sieht, ist weder homophob noch diskriminierend. Hier wird eine Unterscheidung wichtig, die der Philosoph Raphael E. Bexten in seiner Untersuchung „Was ist menschliches Personsein?“ beschrieben hat. Es muß nicht allem zugestimmt werden, was jemand anderes für richtig hält, aber niemals kann der Mensch seine ontologische Würde, die aus dem Sein folgt, verlieren.

In Form des politisch-medialen Establishments ist eine sich moralisch überlegen fühlende Pseudo-Aristokratie entstanden. Hillary Clinton hat in ihrem neuen Buch „What happened“ (dt. „Was geschehen ist“) ihrer Fassungslosigkeit über das Ergebnis der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl Ausdruck verliehen. Eine Fassungslosigkeit, die einer Politikerin eigentlich nicht gut ansteht. Ist nicht das Volk der Souverän? Oder vielleicht nur dann, wenn es eine vorgegebene Weltanschauung bestätigt? Es soll hier nicht ein einseitig positives Bild von Trump gezeichnet werden, nur scheint dieses Beispiel geeignet, ein Bild der derzeitigen Schieflage zu zeichnen. Die Grenze zwischen Fakt und Fake News ist bisweilen gar nicht so leicht zu ziehen. Das Streben nach Progressivität hat letztlich das Vakuum ausgefüllt, das die Wahrheitsfrage gelassen hat. Christen etwa glauben an zeitlose Wahrheiten, wie wir sie uns in diesen Tagen erst wieder vergegenwärtigt haben. Und zeitlos, bedeutet das nicht immer auch Avantgarde?






Dr. Friederike Hoffmann-Klein, Jahrgang 1967, arbeitet als Juristin mit Schwerpunkt Eu­ropa- und Kirchenrecht in Freiburg, darüber hinaus als Journalistin und Übersetzerin. Sie ist stellvertretende Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL) Baden-Württemberg und Mitglied in deren Bundesvorstand. Auf dem Forum diskutierte sie zuletzt Für und Wider des Hausunterrichts gegenüber der Schulpflicht („Ein deutscher Sonderweg?“, JF 39/17).

Foto: Widerstreit des begrifflich Guten und Bösen im Denken und in der Welt: Fortschrittlich gegen rückwärtsgewandt, modern gegen überholt: Schlagworte, die einen bestimmten Klang erhalten haben. Die negativ belegten Sachverhalte sollen nicht mehr diskutierbar sein