© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Das urdeutsche Trauma
400 Jahre Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges: Herfried Münkler präsentiert einen voluminösen Band über den blutigen Konflikt im Herzen Europas
Ebrerhard Straub

Für das größte Nationalunglück der Deutschen gilt seit dem 19. Jahrhundert der Dreißigjährige Krieg unter dem Einfluß von Schillers Geschichte, der die vielen Kriege als einen großen Zusammenhang behandelte. Sein systematisch geordnetes Zeitbild gehört zu den Meisterwerken der deutschen Geschichtsschreibung. Es erschien 1793. Damals hatte schon eine andere Folge von Kriegen in Eu-ropa begonnen mit den revolutionären Völkerbeglückern aus Frankreich und dann mit Napoleon, die erst auf  dem Wiener Kongreß 1815 beendet werden konnte. 

Die Schrecken dieser Kriege blieben deutschen Kulturprotestanten und Nationalliberalen unvergessen. Aus ihrem Kreis kamen die meisten Historiker. Sie übertrugen den Kampf ihrer Väter gegen imperialen Absolutismus und ihren Einsatz für freies Denken in der Abwehr französischer Bedrückungen und Verheerungen zurück in das 17. Jahrhundert. Schiller hatte ihnen schließlich erzählt, wie beherzt und zäh die Vorfahren für evangelische Freiheit, die bedrohte Geistesfreiheit, stritten und damit zugleich ihre deutschen, politischen Freiheiten vor papistischen und kaiserlichen Anschlägen sicherten. 

Der sogenannte Dreißigjährige Krieg mit seinen Rohheiten und Verwüstungen wurde im Sinne der schwarzen Romantik zu einer effektvollen Katastrophe dramatisiert, über deren Trümmer strahlend und hell der siegreiche deutsche Genius der Freiheit für Licht und Glanz sorgte, eine schönere Zukunft verheißend. Die ununterbrochenen Kriege zwischen 1618 und 1648 verstanden deutsche Historiker als Teil ihrer Freiheitgeschichte. Denn Deutsches Reich und welsche Majestät der hispanisierten Kaiser können vergehen. Was lebt und unverwüstlich ist, das stiften die freie deutsche Kunst und Wissenschaft, die tapfer jeder Vergewaltigung trotzen, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die 22 Jahre Krieg zwischen 1793 und 1815 abermals wunderbar bestätigt haben. Die Deutschen sind die Retter nicht nur ihrer, sondern der Freiheit Europas. Die Schauergeschichten mit all ihren grellen Übertreibungen bis hin zur Entvölkerung vieler Städte und ganzer Provinzen waren unentbehrlich, um den Triumph der Freiheit herzbezwingend veranschaulichen zu können.  

Vorzugsweise als einen deutschen Krieg betrachtet

Diese nationalliberale und kulturprotestantische Freiheitsgeschichte übernahmen evangelische Nordeuropäer oder antiklerikale Franzosen als deutschen Beitrag zur Geschichte Europas, zur Geschichte der fortschreitenden Freiheit in der Welt. Gut kaiserlich Gesonnene, richtige Reichsdeutsche, Italiener, Spanier, Wallonen, die alle über Reichslehen auch zum Reich gehörten, Katholiken überhaupt haben in dieser Heldengeschichte höchstens als Dunkelmänner und Feinde des Lichtes ihren Platz. 

Der Berliner Politologe Herfried Münkler möchte sich begreiflicherweise nicht in diese Tradition einreihen mit seinem Buch „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe. Deutsches Trauma 1618–1648“. Denn er weiß ja, daß Deutsche mit ihren so besonderen Vergangenheiten äußerst mißtrauisch sein müssen, sobald sie über die Geschichte ihrer Sonderwege und Verirrungen nachdenken.  

Die Vergegenwärtigung einer nationalen Katastrophe, in der das Volk der Täter etwa als Opfer erscheine, hält er geschichtspolitisch für nicht empfehlenswert. Er kann es dennoch wagen, ein deutsches Trauma zu beschreiben, weil es durch die Schrecken, an denen Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert seinen Anteil hatte, um seine weitere Wirkung gebracht wurde. 

Für die deutsche Gegenwart ist diese ferne Geschichte längst völlig fern und daher belanglos. Aber die Erinnerung an sie könnte gleichwohl hilfreich sein in Hinsicht auf die aktuellen Kriege im Nahen und Mittleren Osten, die seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen. In einem neuen Westfälischen Frieden vermutet Herfried Münkler die Voraussetzung für eine segensreiche „Westfälische Ordnung“ in diesem Großraum,  auf die freilich die dort von Gewalt und  Terror Traumatisierten noch längere Zeit warten müssen.

Herfried Münkler schildert detailliert die Waffen, Uniformen, die Marschbewegungen, auch die Meutereien der Soldaten, die vergeblich auf ihren Sold warteten, und natürlich das Plündern, Sengen und Brennen in diesen Feldzügen, das aufgeregte Hin und Her von einem Schauplatz auf den anderen in diesem weiten „Kriegstheater“. Um die Qualität eines Weines kennenzulernen, genügt ein Glas, man muß nicht gleich eine Flasche, gar das ganze Faß leeren. 

Diesen bewährten Grundsatz beachtet der um mannigfache militärische Einzelheiten besorgte Orientierungshelfer im Schlachtgetümmel nicht weiter. So taumelt der Leser von einer örtlichen Katastrophe in die nächste und verliert den Überblick wie einst der Zeitgenosse. Viele Katastrophen, zuweilen nur für Söldner und die von ihnen mißhandelten Bauern, ergeben noch keine europäische Katastrophe. 

Eine europäische Ordnung wurde erst 1713 hergestellt

Nur selten verläßt Münkler das unmittelbar deutsche Kriegsgebiet. Deshalb ist auch sein Dreißigjähriger Krieg vorzugsweise ein deutscher Krieg, ähnlich wie bei vielen anderen deutschen Historikern. Insofern liegt es nahe, den Frieden von Münster und Osnabrück, den Westfälischen Frieden, eine rein deutsche Angelegenheit, im Sinne einer europäischen Ordnung zu überhöhen. Die Kriege hörten 1648 gar nicht auf, sie zogen sich weitere elf Jahre hin in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, vor allem auch in Asien und Amerika, worüber Münkler seltsamerweise schweigt, obschon sich damals ein völlig neuer Kriegstyp entwickelte, der schmutzige Kolonialkrieg, ganz unabhängig von den nur für Europa gültigen rechtlichen Übereinkünften. 

Eine wirklich beständige, nach der Niederlage Napoleons erneuerte, europäische Ordnung, das Konzert der fünf Großmächte, ergab sich erst ab 1713, nach dem Frieden zu Utrecht. Dieser Friede beschloß einen seit 1688 geführten weiteren Dreißigjährigen, europäischen Krieg, der gegen die Türken und im Norden bis 1718 und 1720 andauerte. Die Deutschen, die angeblich traumatisierten und dezimierten, kämpften meist siegreich in Italien, in den Niederlanden, in Frankreich, in Spanien und auf dem Balkan. Es war die Zeit des edlen Ritters, des Prinz Eugen von Savoyen und einer letzten Kaiserherrlichkeit, von der die Kaisersäle in den festlichen Reichsstiften und Bischofsresidenzen künden. Der Dreißigjährige Krieg bedeutete keinen Kulturbruch, wie Herfried Münkler meint, ganz im Gegenteil, ab 1700 erreicht das barocke Deutschland eine ungeahnte kulturelle Ausstrahlung. 

Erst im 18. Jahrhundert verklärten Reichsrechtler die westfälischen Verträge als Grundgesetz Deutschlands, eines Römischen Reiches, in dem sich das Haus Österreich in fast hundert Jahren Krieg behauptet hatte und damit auch das Reich auf neuen Fundamenten sicherte, die fast weitere hundert Jahre stabil blieben. Herfried Münkler hat es leider versäumt, den nur für Deutschland Dreißigjährigen Krieg aus seiner provinziellen Verengung zu befreien und vor einem weiten europäischen Horizont zu betrachten. Beliebige Ausblicke in die globalisierte Welt von heute bieten dafür keinen Ersatz. 

Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648. Rowohlt Verlag, Berlin 2017, gebunden, 974 Seiten, 39,95 Euro