© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Mehr Schreckbild als ein Leuchtturm des „Melting Pot“
Rassismus statt Multikulti: Alexis de Tocquevilles immer noch aktueller Blick auf die US-Demokratie
Wolfgang Müller

Auf einen am 11. Dezember 2017 ausgeführten islamistischen Anschlag reagierte New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio mit einem Bekenntnis zu Multikulti. Seine Stadt bleibe allen Angriffen zum Trotz ein „Leuchtturm“, welcher der Welt signalisiere, wie eine Gesellschaft „mit vielen unterschiedlichen Hintergründen und vielen unterschiedlichen Glaubensrichtungen funktionieren kann“. Der Gouverneur des Staates New York sekundierte mit ebenso großspuriger Rhetorik, die den „Melting Pot“ am Hudson River einmal mehr zum „Symbol für Demokratie und Freiheit“ ausrief.

In Wirklichkeit leuchtet die Gesellschaft der Vereinigten Staaten nicht messianisch voraus auf das kommende tausendjährige Reich der völkerlosen „One World“, sondern zurück in nachtschwarze Gewaltkulturen, denen jedoch noch eine große Zukunft bevorstehen könnte. Diesen Schluß legt jedenfalls Alexis de Tocqueville (1805–1859) nahe, dessen „De la démocratie en Amérique“ (1835/40), wie das katholische „Staatslexikon“ beizeiten (1932) rühmte, ihn als „besten Kenner des Amerikanertums“ ausweise, der damit zugleich wie kein anderer das „Wesen der Demokratie“ erfaßt habe. 

US-Gleichheitsversprechen ist nie eingelöst worden

Der Aristokrat, dessen Urahn an der Seite Wilhelms des Eroberers an der Schlacht von Hastings (1066) teilnahm, ein jeder Stubengelehrsamkeit abholder Verwaltungsjurist, der 1849 kurzzeitig als Außenminister Frankreichs amtierte und der sich zum Kabinettschef den – seinen Überzeugungen konträren – Rassentheoretiker Arthur de Gobineau wählte, gilt bis heute als „der größte Analytiker der politischen und sozialen Welt seit Aristoteles und Machiavelli“ (Wilhelm Dilthey).

Das Werk des Staatsmanns und Geschichtsdenkers ist nach 1945 zuvörderst als Warnung vor despotischen, „totalitären“ Möglichkeiten demokratisch verfaßter Gemeinwesen ausgiebig rezipiert worden. Nur am Rande beachtet wurde hingegen das zehnte Kapitel des ersten Teils seines Amerika-Buches: „Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der drei Rassen im Gebiet der Vereinigten Staaten“. Von diesen drei Bevölkerungsgruppen gingen in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die roten Amerikaner, die indigenen Indianer, ihrem Untergang durch ethnische Säuberung entgegen. Die aus enthemmter Profitgier importierten schwarzafrikanischen Zwangseinwanderer waren im Süden entweder Sklaven oder im Norden Bürger zweiter Klasse. Die von der dritten Gruppe, der weißen (angelsächsisch-protestantischen) Mehrheit, beherrschte US-Demokratie stellte sich für Tocqueville also, polemisch formuliert, als „rassistischer“ Staat dar. 

Die Politologin Skadi Siiri Krause (Halle) meint deshalb, der französische Edelmann habe mit dieser Skizze „sozialer Ausgrenzung“ den Grundwiderspruch der US-Demokratie markiert, der sich bis heute hinter dem offiziellen multikulturellen Selbstverständnis à la de Blasio verberge (Berliner Journal für Soziologie, 1/2017). Denn das demokratische Gleichheitsversprechen, das kraß mit der Sklaverei kollidierte, sei auch nach deren gesetzlicher Abschaffung nie eingelöst worden. Stattdessen setzte sich informelle Rassentrennung, wie sie schon Tocqueville registrierte, im täglichen Leben durch. Bis heute gebe es daher „getrennte weiße und schwarze Wohnviertel“, scheitern schwarze Bildungskarrieren besonders häufig, herrsche auf dem Arbeitsmarkt Rassendiskriminierung und sorge „rassistische Polizeigewalt“ permanent für Schlagzeilen. Selbst in die Sprache habe sich dieser „Rassismus“ eingeschrieben, da die Bezeichnung „Afroamerikaner“ an die Herkunft der schwarzen Mitbürger erinnere und sie als „halbe Amerikaner“ stigmatisiere.