© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

Pankraz,
E. Burke und die Macht der Einzelnen

Ein Preis für die Verbreitung von Illusionen hätte, wenn es ihn denn gäbe, letzte Woche unbedingt an den britischen Germanisten Jeremy Adler gehen müssen, der  in der Süddeutschen Zeitung eine gewaltige Suada über die Macht von frei gewählten Parlamentsabgeordneten von sich gab. Diese Abgeordneten, so Adler, seien laut demokratischer Übereinkunft einzig und allein ihrem Gewissen verpflichtet, nicht dem Wähler, geschweige denn irgendwelchen Parteien, denen sie angehörten. Individuelles Gewissen müsse in jedem Fall Vorrang haben vor Parteibeschlüssen.

Adler spricht in seinem Artikel von aktuellen britischen Machtverhältnissen, mit scharfer Kante gegen die Premierministerin Theresa May, die gerade dabei sei, das Prinzip der Gewissensfreiheit von Parlamentariern abzuschaffen. „Dieses Prinzip“, schreibt er, „ist tief in der Struktur des Lebens Britanniens verankert. Die jetzige Regierung aber hat mit dem Grundsatz gebrochen. May beschwört stets ‘den Willen des Volkes’. Damit maßt sie sich etwas an, was als ‘Tyrannei der Majorität’ bezeichnet wurde, anstatt eine gewissenhafte Legislative zu leiten.“

„Tyrannei der Majorität“ contra „Gewissen des Einzelnen“, in dem die wahre Macht aller echt parlamentarischen Politik verankert sei – das also ist laut Adler „die Aporie der heutigen Verfassung“ in England und anderswo. Er selbst tritt energisch für die Gewissensfreiheit des gewählten Abgeordneten ein. Jeder von ihnen müsse das Recht haben, Entscheidungen eventuell auch gegen den Willen seiner Wähler oder gegen den Willen von Parteimehrheiten oder Parteiführungen zu treffen. Es sei höchst undemokratisch, ihn deshalb regelrecht zu bestrafen und faktisch aus dem Politikbetrieb auszuschließen.


O unschuldsvoller Engel du“, kann man da nur seufzen. Als geistigen Beistand für seinen angestrengten Idealismus ruft Adler keinen Geringeren als den Staatsphilosophen Edmund Burke (1729–1797) an, wohl weil dieser wie Theresa May ebenfalls ein Konservativer gewesen sei; aber gerade bei Burke hätte er lernen können, daß das Ideal des einzig und allein seinem Gewissen verantwortlichen Parlaments-

abgeordneten eine reine Chimäre ist, eine bloße Erinnerung an uralte, feudale Zeiten, wo politische Entscheider so reich und unabhängig waren, daß ihnen alle Gegenspieler existentiell völlig egal seien konnten.

Heute gibt es solche Konstellationen nicht mehr. Und am wenigsten gibt es noch ein „eigenes Gewissen“, dem man sich als Stichwortgeber anvertrauen kann, zumindest in der Politik nicht. Alle festen Grundsätze, selbst die primären Moralgrundsätze der Zehn Gebote, sind dort in den Schatten gerückt, unterliegen situativen oder sonstigen, angeblich „absolut notwendigen“ Aktualisierungen, die vom „Zeitgeist“ dirigiert werden, das heißt vom Gewäsch des herrschenden „medial-politischen Komplexes“, das mittlerweile sogar zu Algorithmen gerinnt und so zu „alternativlosen“ Entscheidungen führt.

Der „allein seinem Gewissen folgende“ Abgeordnete wird überhaupt nicht mehr als Individualität wahrgenommen, sondern nur noch als Störfaktor, den es mit technischen Mitteln zu beseitigen gilt. Er muß gar nicht mehr ängstlich um seine Wiederwahl bangen, er wird gar nicht mehr aufgestellt. Niemand interessiert sich mehr für ihn, nicht einmal Talkshows laden ihn mehr ein, die ihn bisher immerhin manchmal noch als Kuriosum oder als Punchingball für die übrigen Teilnehmer eingesetzt hatten. Welcher Politiker mit gesundem Ehrgeiz wird sich denn ein solches Schicksal aus Gewissensgründen freiwillig zumuten wollen?

Edmund Burke jedenfalls hätte ihm nie und nimmer dazu geraten. Der große Skeptiker betrachtete auch die von ihm an sich sehr respektierte Figur des „Abgeordneten, der einzig seinem Gewissen gehorcht“, mit Zurückhaltung. Er wußte: Politik ist keine Religion, es geht dort um weltliche Dinge, man versündigt sich nicht, wenn man in ihr einmal alle Fünfe gerade sein läßt. Und sie ist (nicht nur in parlamentarischen Demokratien, sondern auch in Monarchien) ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, man muß unentwegt Kompromisse schließen, muß sich zusammentun, sich zu gemeinsamen Aktionen verabreden. Das gilt sowohl für die Regierung als auch für die Opposition.


Für völlig überzogen hielt Edmund Burke den Gedanken der zu seiner Zeit so lautstarken „Aufklärer“, man müsse die Politik von oben bis unten „durchrationalisieren“; Politik, so Burke, sei kein bloßes Geschäft der Vernunft; das Gefühl, die Entfaltung von Hoffnungen, auch von Zorn und anderen Leidenschaften, gehöre ebenfalls dazu. Das Schlimmste, was er sich vorstellen könne, schrieb er einmal, sei eine Regierung, „die nur aus Advokaten und Dorfpfarrern besteht“. Heute würde er wohl statt von Advokaten von Politologen sprechen und statt von Dorfpfarrern von evangelischen und katholischen Bischöfen.

Zum Thema „Politik, Staatshaushalt und Geld“ hat sich Burke noch in seiner letzten Schrift, der „Rechtfertigung eines politischen Lebens“ von 1796, ausführlich geäußert, so wichtig erschien ihm die Sache. „Sparsamkeit allein“, so lesen wir da, „ist noch keine gute Staatswirtschaft. Es gibt Fälle, wo wahre Ökonomie in großen Ausgaben besteht. Da ist dann die große Tugend der Weisheit nötig, ein reifes Urteil und ein fester, geübter Geist. Sie verschließt der unverschämten Zudringlichkeit die Tür, um dem bescheidenen Verdienst die andere um so weiter zu öffnen.“

An einer anderen Stelle der  „Rechtfertigung“ lesen wir von „Regierungsangelegenheiten“, die nur „Abscheu“ erregen könnten, weil es bei ihnen um nichts weiter gehe als um „Luftgebäude, Träumereien und Hirngespinste aller Art“. Das also wäre von Edmund Burke zu lernen: daß es in einer demokratisch-parlamentarisch organisierten Politik nicht in erster Linie darum geht, ob eine tyrannische Majorität oder brave Einzelkämpfer mit Gewissensbissen  den Kurs bestimmen, sondern einzig darum, ob der Kurs gut und vernünftig ist.