© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

Im Dickicht der Interessen
Provenienzforschung: Eine Nachbetrachtung zur Affäre um die Kunstsammlung Gurlitt
Sebastian Hennig

In einer beispiellosen Kampagne, zu gleichen Teilen durch die Staatsanwaltschaft, die läßliche Journaille und Pseudowissenschaftler einer absurden Provenienzforschung instrumentiert, wurde einem ahnungslosen Publikum die Person des Cornelius Gurlitt als häßlicher alter Drachen auf dem Nazihort präsentiert. Weil die Prägung eines solchen ersten Eindrucks unterschwellig allen folgenden Korrekturen standhält, wirkt nun auch der Titel des Buches „Der Fall Gurlitt“ mißverständlich.

Maurice Philip Remy stellt darin „Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal“ in Aussicht. Er hat damit tatsächlich mehr geleistet als nur die Affäre des willkürlichen Übergriffes auf eine private Kunstsammlung zu resümieren. Mit der Darstellung der Familie Gurlitt entrollt er zugleich ein Panorama eines fortschrittlichen deutschen Kulturbürgertums während der Kaiserzeit, dessen jüdische Wurzeln im zweiten Reich rückstandslos aufgegangen sind. Die dramatische Entflechtung dieser Symbiose ist fraglos eines der schmerzlichsten Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte, wenn man so will, deren dunkelstes Kapitel. Aber wo Schatten sind, ist eben auch Licht und viel Halbschatten. Der Fall Gurlitt hat das auf eine komplexe Art und Weise anschaulich gemacht.

Loyalität zur deutschen Kulturnation

Die deutschen Juden oder jüdischen Deutschen emanzipierten sich nicht nur in der deutschen Gesellschaft, sondern zugleich vom Judentum. Die Bindekraft der Religion wurde durch Loyalität zur einzigartigen Kulturnation des Deutschen Reichs ersetzt. Für die Rathenau, Ballin, Gurlitt, Cossmann und Lewald war es völlig abwegig, ein Erez Israel in der syrischen Provinz des Osmanischen Reichs zu suchen. Ihr quasi-biblisches Kanaan umfaßte das Reich der lieblichen Landschaften inmitten Europas, das damals vom Rhein bis zum Pregel reichte und dessen vielfältige Gesellschaft sich von der Judenfeindschaft der slawischen Nachbarn ebenso günstig abhob wie von dem exklusiven Traditionsstolz der Westeuropäer.  

Auf über sechshundert Seiten geben zwanzig Kapitel des Buches von Remy zahllose Anknüpfungspunkte, um den Betrachtungsrahmen in dieser Richtung zu erweitern. Eine kluge erzählerische Dramaturgie, solide Prosa, sorgfältige Recherche und viele Textabbildungen garantieren eine andauernde Relevanz. Durch den Respekt gegenüber dem wechselvollen Leben der Titelperson mit allen seinen Ambivalenzen, Versuchungen und dem stillen Heroismus ragt es weit über die anderen jüngst zum Thema erschienenen Bücher hervor, angefangen mit Stefan Koldehoffs „Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS Raubkunst und der Fall Gurlitt“ (2014) über Meike Hoffmanns und Nicola Kuhns

„Hitlers Kunsthändler Hildebrand Gurlitt“ (2016) bis zu Catherine Hickleys „Gurlitts Schatz“ (2016). Remy ist der erste, der konsequent Blickachsen durch das Dickicht der Interessen schlägt. Seine Parteilichkeit für das Opfer des Exzesses ist eine Selbstverständlichkeit und macht ihn noch lange nicht zum Apologeten. 

Remy beginnt anhand des schmalen Terminkalenders des Cornelius Gurlitt dessen Martyrium zu rekonstruieren. Während der alte Mann seinen unspektakulären Gewohnheiten obliegt, schürzt sich eine Schlinge um ihn. Die weitere Erzählung wird immer wieder durchzogen von Exkursen in die Gurlittsche Familiengeschichte. Der Nestor der Familie ist der Architekt und Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt senior. Mit seiner Rehabilitation der Barockarchitektur wurde er indirekt zum Lebensretter der Stadt Dresden, deren Auferstehung nach dem Krieg sich wesentlich der Wertschätzung jener Epoche verdankt. Gurlitts Schüler Hubert Ermisch hatte die Sanierung des Dresdner Zwingers erst 1936 abgeschlossen, um sie zehn Jahre später erneut angehen zu müssen. Damit war schließlich der Damm gebrochen für die Erhaltung des Dresdner Stadtbildes.

Gurlitt inventarisierte die Kunstdenkmäler des Königreiches Sachsen. Sein Vater war der Landschaftsmaler Louis Gurlitt. Albert Speer schätzte dessen Gemälde und erwarb sie beim Enkel des Malers. Der königlich sächsische Geheimrat Cornelius Gurlitt vermittelte seinem Sohn die Einsicht: „Ein gutes Leben vorleben ist die beste Erziehung.“ Zugleich war er durch seinen Umgang mit Julius Langbehn eine der Inspirationsquellen von dessen kulturkritischem Bestseller „Rembrandt als Erzieher“.

Ein anderer Blick auf die klassische Moderne

Der Professsorenkollege an der Dresdner Hochschule und Reichstagsarchitekt Paul Wallot war der Pate des Sohnes Hildebrand. Dieser heiratete die Ausdruckstänzerin Helene Hanke. Es war eine Liebesheirat in Zeiten, die für die Familie nicht ganz einfach sind. Als Hochzeitsgeschenk reichen Eltern die eine Landschaft von Monet an das junge Paar weiter. Parallel zum Buch dient der Ausstellungskatalog der Bundeskunsthalle Bonn „Bestandsaufnahme Gurlitt“ als eine Art Familienalbum. Remy liefert die Geschichten dazu. Wird der Blick auf die Bonner Ausstellung von der Lektüre seines Buchs durchkreuzt, dann bleibt von deren Untertitel „NS-Kunstraub und die Folgen“ nicht viel Bedeutungsgehalt übrig. Helene wird nach des Vaters Hildebrand Unfalltod die Leitfigur für Cornelius den Jüngeren. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1968 garantiert sie die Kontinuität der hergebrachten Lebensweise. Seitdem verläuft das Leben ihres Sohnes weitgehend retrospektiv und bewahrend. Ein Foto der ausgebombten Dresdner Villa der Gurlitts steht gerahmt auf dem Schrank. Remy verhehlt nicht seine Sympathie für den Sonderling, der gleichsam nur der Repräsentant einer Generation ist, von denen in wenigen Jahren niemand mehr da sein wird.

Das Schicksal der Bilder von Künstlern, die überwiegend mit Gurlitts Vater befreundet waren, lädt zugleich zu einem anderen Blick auf die sogenannte klassische Moderne ein. Was wir heute als Ausdruck kühner Avantgarde verstehen ist untrennbar mit der Gesellschaft verbunden, der wir sie gern als Opposition gegenüberstellen. Denn weniger dem unwiderstehlichen Opponieren der Aufstrebenden, sondern vielmehr noch dem jovialen Gewähren und dem hilfreichen Interesse der Arrivierten ist der Aufschwung der künstlerischen Moderne zu verdanken. Der Blaue Reiter und Die Brücke sind eben genauso wilhelminische Kunst, wie Reinhold Begas und Anton von Werner.

Die Moderne wurde eben nicht gegen den damaligen Zeitgeist durchgesetzt, sie ist dessen Ausdruck. Ab 1918 erst geriet sie in die größten Schwierigkeiten und zehn Jahre darauf war sie geistig und materiell bankrott. Eine europäische Wende zur Sachlichkeit, zum Neoklassizismus setzte ein. Solche Umschwünge respektieren in kaum einem Fall die Integrität von Lebensläufen. Die Menschen haben sich im Gegenteil den Verhältnissen zu akkommodieren. Im zwanzigsten Jahrhundert folgten die Brüche in kurzen Abständen aufeinander. 

Das Buch endet mit dem Tod und dem moralischen Triumph seines stillen Helden. Remy stellt dem Vormund Christoph Edel ein gutes Zeugnis aus. Die bittere Ironie der Geschichte besteht darin, daß Edel gegenüber seinem Mandanten eine ähnlich ambivalente Beziehung zugewiesen wird, wie sie Hildebrand Gurlitt als Käufer zu dem Leipziger Musikverleger Hinrichsen einnimmt. Immer endet die Treibjagd mit dem Tod eines vom begehrlichen Staat gejagten und beraubten hochbetagten Mannes. Hinrichsen und Gurlitt stammen aus einer untergegangenen Welt, für die ihren Peinigern jedes Verständnis fehlte. Diese sahen dort jeweils nur Geldbeträge gehortet, wo Lebenswerte sorgsam gehütet wurden. Remys Buch lädt dazu ein, aus der Geschichte zu lernen.  

Ausstellungen „Bestandsaufnahme Gurlitt“ in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4 (bis 11. März) und im Kunstmuseum Bern, Hodlerstraße 8-12 ( bis 4. März)

 www.bundeskunsthalle.de

 www.kunstmuseumbern.ch

Maurice Philip Remy: Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal. Europa Verlag, 2017, gebunden, 672 Seiten, Abbildungen, 35 Euro





Sammlung Gurlitt

Anfang 2012 beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft Augsburg bei dem Kunstsammler Cornelius Gurlitt in dessen Münchner Wohnung sämtliche aus dem Nachlaß seines Vaters stammende Kunstwerke. Der Öffentlichkeit bekannt wurde das erst im November 2013 durch einen Focus-Bericht. Bei einem geringen Teil der Werke bestand der Verdacht, es könnte sich um NS-Raubkunst handeln. Nach dem Tod Gurlitts 2014 ging die Sammlung an die Stiftung des Kunstmuseums Bern, das die Provenienzrecherchen fortsetzen will.