© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

Ein Parvenu mit zweifelhaftem Charakter
Eine vollendete Dekonstruktion: Die Biographie über den berühmten preußischen Kriminalisten Wilhelm Stieber
Jürgen W. Schmidt

Karl Marx und Friedrich Engels hielten den preußischen Geheimpolizisten Wilhelm Stieber für einen der elendesten Polizeilumpen des Jahrhunderts. Doch geistert Stieber heute noch als vorgeblicher Schöpfer der preußischen Geheimpolizei und höchst erfolgreicher Nachrichtendienstchef während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 durch populärwissenschaftliche Darstellungen der Geheimdienstgeschichte. 

Daß beide Auffassungen sachlich völlig falsch sind, hat soeben der Politologe Hilmar-Detlef Brückner, selbst langjähriger Mitarbeiter einer deutschen Sicherheitsbehörde, in seiner Stieber-Biographie nachgewiesen. Erstmals hat er die vielen überlieferten Akten, die in differierenden Ausgaben  postum veröffentlichen Stieber-Denkwürdigkeiten und die bislang kaum zur Kenntnis genommene zeitgenössische Literatur über Stieber miteinander verglichen. Demgemäß war der in Merseburg geborene Altersgenosse von Karl Marx ein Emporkömmling aus unteren Volksschichten. Der Vater, ein kleiner Beamter, ermöglichte seinem Sohn das Abitur an einem renommierten Berliner Gymnasium und das spätere Jura-Studium. 

Stieber profiliert sich als schonungsloser Aufklärer

Schnell entdeckt der junge Wilhelm Stieber sein Talent für die Feder, und bis zum Lebensende war er diesbezüglich unermüdlich tätig. Er publiziert alles, was Geld einbringen konnte, vor allem Kalender und kriminalistische Zeitungen. Am Ende des Lebens konnte er stolz das Rittergut Belsin in der Provinz Posen, ein Stadthaus in Berlin und ein beachtliches Geldvermögen sein Eigentum nennen. 

Doch neben Geld dürstete der Parvenu Stieber nach gesellschaftlicher Anerkennung und öffentlichem Ruhm. Ein Praktikum im Berliner Polizeipräsidium benutzte der junge Jurist und angehende Beamte zur persönlichen Profilierung als schonungsloser Aufklärer und listenreicher Kriminalist. Doch die von ihm 

aufgedeckte landesverräterische Verschwörung im Hirschberger Tal entpuppte sich schließlich als reine Fiktion und beendete vorerst Stiebers polizeiliche Karriere. 

Um Erfolg zu haben, schreckte Stieber nicht vor Unterstellungen und groben Fälschungen bei Aussagen und Beweismaterial, vor Nötigung und Lügen zurück. Aus dem Staatsdienst entfernt, als nunmehriger Rechtsanwalt in Berlin, hat er eben wegen dieser skrupellosen Erfolgssucht im Bunde mit seinem mangelhaft ausgeprägten Hang zur Rechtschaffenheit großen beruflichen Erfolg. 

Zu Beginn der Revolution 1848 betätigt er sich politisch zweideutig und sah vorerst den Erfolg auf seiten der „Linken“, was zu einem Kontaktversuch bei Karl Marx führte. Doch schnell orientiert sich Stieber politisch um, als die Waagschale wieder auf die Seite der staatlichen Reaktion neigt. Ihm gelingt die Rückkehr in den preußischen Polizeidienst, und schnell steigt er 1852 zum Leiter der Berliner Kriminalpolizei auf. 

Brückner dokumentiert in seinem Buch viele Fälle aus der kriminal- und geheimpolizeilichen Praxis von Stieber. Alle Fälle zeigen, daß Stieber eine moralisch unsaubere, korrupte Persönlichkeit war und jede Möglichkeit zur persönlichen Bereicherung ausnutzte. Paßten die Beweise nicht, so wurden sie passend gemacht, und seine Kritiker bekämpfte der mittlerweile sehr pressemächtige Stieber vehement. Obwohl Brückner deutlich aufzeigt, daß Stieber seine anmaßenden Züge zeitlebens nie ablegte, kam er nun endlich in die ersehnte Nähe von Hof- und Militärkreisen und führte zunehmend spezielle Geheimaufträge aus. 

Zur Ehre der preußischen Verwaltung sei gesagt, daß sich zunehmend höhere Justiz- und Polizeibeamte fanden, denen die Handlungsweise Stiebers unangenehm auffiel. Doch Stieber gelang es, seine gar nicht mal so üppigen beruflichen Erfolge aufzublasen und sich als ein geheimpolizeiliches Genie darzustellen, das für Preußen unverzichtbar sei. Diesbezüglich interessant sind die Abschnitte des Buches über die Kriege von 1866 und 1870/71, in welchen der Verfasser deutlich aufzeigt, daß Stiebers Rolle als Polizist subaltern und überschaubar war und seine vorgeblichen nachrichtendienstlichen Erfolge einen selbstgeschaffenen Mythos darstellen. 

Daß Stieber im Laufe seine Lebens mehrfach selbst mit dem Gesetz in Konflikt kam und seine Ehe mit einer Minderjährigen aus „Schauspielerkreisen“ gemäß heutigen Auffassungen wahrscheinlich als Grenzfall von Pädophilie zu betrachten wäre, rundet das moralische Bild von Wilhelm Stieber ab. Nach 1874 war die Verwendung von Stieber in preußischen Staatsdiensten aus allen genannten Gründen nicht mehr opportun. 

Stieber genoß deshalb als Privatier seinen finanziellen Erfolg und machte als angeblich sehr geschätzter Experte in Sicherheitsfragen mit seinen Ratschlägen Geld. Auf wissenschaftlicher Grundlage hat Hilmar-Detlef Brückner in seiner Biographie allen Stieber-Mythen den Boden entzogen und ihn als eine sehr fragwürdige Persönlichkeit, deren Erfolgsrezept in Selbstreklame bestand, entlarvt.

Hilmar-Detlef Brückner: Wilhelm Stieber (1818–1882). Ein Mann und seine alternative Wirklichkeit. Verlag tredition Hamburg 2017, gebunden, 476 Seiten, 28,99 Euro