© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

Alte Bündnisse wackeln
Syrien-Konflikt: Erdogans Feldzug gegen die Kurden schwächt Region und Nato
Jürgen Liminski

Der wohl bedeutendste Geschichtsschreiber der Antike, Thukydides, hat in seiner Geschichte des Peleponnesischen Krieges einen eindrucksvollen Dialog wiedergegeben zwischen den Gesandten Athens und den Bewohnern der Insel Melos. Nachdem die Leute aus Melos ihre Ansichten dargelegt hatten, verdeutlicht der Gesandte Athens die Machtfrage lapidar: „Die athenische Regierung hat nicht die Absicht, in eine Erörterung darüber einzutreten, ob sie ein historisches Recht hat, die Eingliederung der Insel Melos in ihren Lebensraum zu verlangen, sie verspricht sich von solch einer Erörterung keinerlei nützliche Ergebnisse“. Denn, so die Quintessenz, „der Mächtige tut, was er will, und der Schwache das, was er muß“. 

So ist, vielleicht weniger ziseliert, das Denken von Despoten. Der Mächtige tut, was er will – wenn er es kann. Der islamische Despot und neue Sultan in Ankara, Erdogan, versucht es mit einem Feldzug in Nordsyrien. Er will die Provinz Afrin mit Gewalt in sein neues osmanisches Großreich eingliedern. Historische Rechte, Selbstbestimmung der dort lebenden Bevölkerung oder auch die Folgen eines solchen Angriffskrieges für Syrien und die gesamte Region interessieren ihn nicht. Er hält sich für mächtig und tut, was er will. 

Aber die Schwachen und Angegriffenen sind nicht so machtlos, wie er glaubt. Die kurdischen Peschmerga in der Provinz verfügen über moderne Waffen und Kommunikationsmittel. Sie sind kampferprobt, von den Amerikanern gut ausgebildet und, wichtiger noch, hochmotiviert. Sie wollen einen Völkermord an einer Million Menschen verhindern, wozu der heutige Machthaber in Ankara ebenso fähig ist wie seine Vorgänger vor hundert Jahren, die damals die Armenier massakrierten. Sie wollen Leben und Autonomie der Kurden verteidigen und nicht wieder zum Opfer strategischer Teilungspläne werden. Denn mit dem Krieg um Afrin geht es auch um die Zukunft Syriens. Erdogan will nicht nur seinen Teil am syrischen Kuchen haben, er will sich auch an den Kurden und Amerikanern rächen. 

Sie haben ihm das blühende Geschäft mit dem Islamischen Staat zerstört, in Afrin könnte er es wieder betreiben. Er will auch den Europäern, vor allem den Deutschen, zeigen, daß er Herr der Flüchtlingsdramen ist und die Europäer tun sollen, was sie seiner Meinung nach tun müssen. Daß er dabei deutsche Panzer benutzt und dafür auch Ersatzteile und Wartung verlangt, paßt ins Bild dieses Größenwahnsinnigen. Berlin ist hier gefordert. Die schwarz-rote Koalition hat hier keine Wahl, sie muß nein sagen, wenn es die Panzer nicht gegen Verbündete Amerikas und Europas auffahren lassen will. 

Vielleicht haben die Europäer und Amerikaner Glück und die Kurden treiben die Invasoren wieder aus der Provinz. Unmöglich ist es nicht. Die türkischen Truppen sind zwar bestens gerüstet, aber schlecht motiviert, und es fehlen die tausend Offiziere, die in Erdogans Kerkern schmachten, weil sie nicht so denken, wie er will. Die Säuberungswellen seit dem Putschversuch vor anderthalb Jahren haben die türkische Armee geschwächt. 

Auch die islamistischen Verbündeten Erdogans erweisen sich als keineswegs so kampftüchtig wie gedacht. Die Verluste sind erheblich, auch unter den Türken, wovon Ankara freilich nicht spricht. Erdogans Feldzug jedenfalls stockt, und von einer blitzartigen Eroberung Afrins kann trotz der erdrückenden materiellen Überlegenheit der Türken nicht die Rede sein. Der Einmarsch hat auch einen Vorteil: Er klärt die Fronten in Syrien. Man weiß jetzt genauer, wo die Russen stehen. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als ob sie die Kurden unterstützten. 

Jetzt haben sie ihren Stützpunkt in Afrin aufgegeben. Die Operation sei mit Rußland abgesprochen, heißt es in Ankara. Ein Nato-Staat spricht mit Rußland eine Operation ab, die sich gegen die Nato-Macht USA wendet. Derselbe Nato-Staat zwingt den Nato-Verbündeten Deutschland, den Stützpunkt Incirlik zu verlassen und nach Jordanien auszuweichen. Da stellt sich schon die Frage: Ist die Türkei überhaupt noch Nato-Mitglied oder nicht schon in anderen Bündnissen angekommen? Für Rußland ist die Lage prima vista wie ein Geschenk. Das Verhalten Ankaras trägt Verwirrung ins Lager der Gegner und könnte bei weiterer Eskalation sogar zu einer Spaltung führen. Auf jeden Fall schwächt es die Nato. Und es schwächt Assad, der schon glaubte, den Bürgerkrieg gewonnen zu haben und sich von den Russen freischwimmen zu können. Aber Putin macht auch eine Erfahrung: Auf islamische Herrscher kann man sich nicht verlassen – und auf die Kampfkraft ihrer Armeen offenbar auch nicht.

Das gilt auch für die Flüchtlingsfrage. Es ist Erdogan oder Assad schlicht egal, ob Menschen fliehen, wohin auch immer. Sie machen, was sie wollen. Die Frage allerdings, ob syrische Flüchtlinge in Deutschland jetzt nach Syrien zurückkehren könnten, wird durch den Feldzug Erdogans kaum berührt. Afrin war nie eine Region, aus der viele Menschen geflohen sind, im Gegenteil, dorthin flohen viele Bewohner von Aleppo. Die meisten Syrer flohen in den Libanon, nach Jordanien und in die Türkei. Viele wollen zurück, weil die Lage insgesamt ruhiger geworden ist. Friedlich ist sie nicht. Nur: Wo herrscht wirklich Friede in der Region? Die Rückkehr ist eine Frage der genauen Herkunft. Da wird man feststellen, daß mancher syrischer Paß nicht zum Narrativ des Flüchtlings paßt. Eins aber ist sicher: Der Feldzug Erdogans heizt die Konflikte zwischen Kurden und Erdogan-Anhängern auch in Deutschland an. Demonstrationen und Massenschlägereien sind die Folgen. Ein Grund mehr von vielen, dem Despoten in Ankara endlich Grenzen aufzuzeigen.