© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

„Eine Bringschuld gibt es nicht“
Wie funktioniert Integration tatsächlich? Nicht so, wie die deutsche Politik sie betreibt, warnt der syrisch-deutsche Mediziner und Publizist Salem El-Hamid. Er kam einst als Einwanderer und hat erlebt, worauf es dabei tatsächlich ankommt
Moritz Schwarz

Herr Dr. El-Hamid, Sie sagen, natürlich könnten sich Moslems in Deutschland eingliedern, aber nicht „so“. Was meinen Sie?

Salem El-Hamid: Ich meine diese Vorstellung, man kann mit Willkommenskultur wirklich jeden hier integrieren.

Aber beweist Ihr Buch „Vom Euphrat an den Rhein. Eine syrisch-deutsche Erfolgsgeschichte“, in dem Sie Ihr Leben schildern, nicht, daß es jeder schaffen kann?

El-Hamid: Im Gegenteil, denn tatsächlich muß ein Einwanderer doppelt soviel leisten wie ein Hiesiger, wenn er auch nur gleichziehen will. Denn er muß zusätzlich vor allem die Sprache lernen: Haben meine Kollegen sieben Stunden gelernt, habe ich 14 gebüffelt – weil ich das Lehrbuch erst übersetzen mußte. Haben Sie schon mal 14 Stunden am Stück gelernt?

Noch nie. 

El-Hamid: Nun, Sie wollen ja auch nicht auswandern. Aber dazu ist nicht jeder bereit. 

Also richtet sich Ihr Buch an Einwanderer, um ihnen zu zeigen, was es bedarf?

El-Hamid: Es richtet sich an Deutsche und Einwanderer. Viele haben eine naive Vorstellung von Integration, glauben tatsächlich, Deutschland bestünde nur aus Schokoladenseiten, haben keine Ahnung, daß diese nur genießen wird, wer leistungsbereit und integrationswillig ist.

Woher kommt diese Vorstellung?

El-Hamid: Wir im Orient haben traditionell ein paradiesisches Deutschlandbild. Ich habe als Schüler gelernt, wie zerstört dieses Land nach dem Zweiten Weltkrieg war und welches Wunder an Wiederaufbau dann geschah. Erst als ich Ende 1975 als junger Mediziner nach Deutschland kam, erkannte ich, daß es kein „Wunder“ war, sondern hart erarbeitet worden ist. Die Vorstellung, hierzulande ohne Anstrengung wohlhabend werden zu können wird aber auch von etlichen Medien und vielleicht auch von Bekannten und Verwandten in Deutschland oder von Schleppern vermittelt. Was fatal ist, weil das die Weichen auf ein Mißlingen der Integration stellt. Deshalb würde ich mich freuen, trüge mein Buch dazu bei, ein realistisches Bild davon zu vermitteln, was es tatsächlich erfordert, hier „anzukommen“. 

Nämlich?

El-Hamid: Äußerster Leistungswille, unbedingte Anpassungsbereitschaft, Respekt vor hiesigen Verhältnissen und die psychische Zähigkeit, sich nicht entmutigen zu lassen und durchzuhalten. Glauben Sie mir, das ist ein harter Weg.

Aber muß unsere Gesellschaft Einwanderern deshalb nicht entgegenkommen?

El-Hamid: Sicher, aber nicht so, wie die Publizistin Lamya Kaddor meint, wonach die Deutschen gegenüber Migranten eine Bringschuld hätten. Das lehne ich ab. 

Warum? 

El-Hamid: Erstens sehe ich sie nicht. 

Inwiefern?

El-Hamid: Natürlich muß eine Gesellschaft auch bereit sein, Einwanderer anzunehmen – ausdrücklich sogar. Aber Deutschland tut das bereits, es bietet wirklich Einwanderungswilligen eine faire Chance – ja sogar mehr als das. Und das war schon zu meiner Zeit so. Wenn es also überhaupt eine „Bringschuld“ gibt, so erfüllt Deutschland sie längst.  

Zweitens?

El-Hamid: Zweitens erschwert die „Bringschuld“ die Integration, wenn sie sie nicht gar verhindert. Dies bremst die Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative des einzelnen zu sehr ab, es gibt dann weniger Ansporn für eigenen Erfolg. Drittens kann sie gar zum Gegenteil führen, zur Desintegration, nämlich daß Einwanderer sich mit der Zeit noch weiter von der Gesellschaft entfernen, als sie es zum Zeitpunkt ihrer Ankunft waren: Wenn sie in Parallelgesellschaften abdriften, weil etwa der gemeinsame Alltag und die gemeinsame Sprache fehlen. 

Warum sollte ein Entgegenkommen die Integration nicht fördern? 

El-Hamid: Wie gesagt, Integration ist ein sehr hartes Stück Arbeit! Ein Weg, den man ganz gehen muß. Man kann nicht sagen, ich gebe mir weniger Mühe und mache eben nur die halbe Strecke. 

Ein bißchen Integration geht nicht? 

El-Hamid: Es gibt Einwanderer, die schon vierzig Jahre hier sind und die Sprache immer noch nicht beherrschen. Wenn die deutsche Gesellschaft wegen einer „Bringschuld“ die Anforderungen an die Einwanderer senkt, verleitet sie diese nur dazu, zu glauben, sie hätten die Integration bereits geschafft, obwohl sie tatsächlich erst einen kleinen Teil des Weges zurückgelegt haben. Die Einwanderer merken aber zunächst natürlich nicht, daß sie die Ziele gar nicht erreicht haben. Spätestens im Alltag aber wird es offenbar. Doch da sie formal ja alles Geforderte erfüllt haben, folgern sie unter Umständen, die Probleme rührten daher, man würde sie trotz „erfolgreicher“ Integration ausgrenzen. 

Wurden Sie in Ihrer Karriere hierzulande je durch Fremdenfeindlichkeit behindert?

El-Hamid: So gut wie nicht.

Aber was ist mit dem sogenannten Rassismus in der Mitte der Gesellschaft?

El-Hamid: Obwohl ich es hier am Anfang sehr schwer hatte, ist der mir kaum begegnet. Ich halte ihn für ein Konstrukt.

Aber Sie schildern in Ihrem Buch doch, wie ein Wirt sich demonstrativ weigerte, Sie in seinem Café zu bedienen.

El-Hamid: Richtig, aber das kann überall in der Welt passieren; mir hier, Ihnen in Syrien oder anderswo. Wie ging die Geschichte aus? Es solidarisierten sich so viele Deutsche mit mir, daß er seinen Laden schließen mußte! Und das war 1985. 

Noch einmal: Warum sollte nicht allen gelingen, was Ihnen gelungen ist?

El-Hamid: Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, daß ich eben auch ein herausragender Schüler und ein sehr guter Student war – und daß die Integration dennoch selbst für mich eine extreme Herausforderung gewesen ist. Heute aber kommen Leute, die noch nicht einmal richtig ihre Muttersprache lesen und schreiben können. Und Sie glauben ernsthaft, wenn man die hier in einen Integrationskurs steckt, wird alles gut?

Sie meinen, wir gehen bei unserem Einwanderungsexperiment von einem rein theoretischen Szenario aus – etwa wie Abgastests im Labor statt auf der Straße?    

El-Hamid: Es kommen vielfach Leute vom Lande, die sich beispielsweise schon im syrischen Großstadtleben nicht zurechtfinden. Nun kommen sie aber nicht nach Damaskus, sondern nach Berlin. Oder nehmen Sie den Landwirt ohne Schulabschluß – trotz Schulpflicht in Syrien. Ich sage Ihnen, viele von ihnen werden daran scheitern, auch nur die Sprache richtig zu lernen, geschweige denn, daß sie deutsche Normen übernehmen werden. Die Vorstellung, Menschen einfach „deutsch“ umzuprogrammieren, ist völlig realitätsfremd.

Ist der Islam ein Integrationshindernis?

El-Hamid: Nein. Aber er wird zu einem Problem gemacht. Ich bin selbst Moslem, gläubig und will nicht, daß jemand den Islam beleidigt oder verunglimpft. Aber er ist auch meine Privatsache. Es ist einfach nicht wahr, daß man eine repräsentative Moschee in zentraler Lage braucht, um den Islam zu praktizieren. Verlangt werden aufrichtige Gebete, die ein Moslem überall verrichten kann. Ein Gebot, daß dies nur in einem Prachtbau zu tun ist, kennt der Islam nicht.

Die Moslemverbände würden Ihnen im ganzen wohl widersprechen. 

El-Hamid: Natürlich, aber denen geht es auch nicht nur um die reine Religion, sondern um ihren Einfluß „im Namen des Islam“, den sie vor sich hertragen, um politisches Gewicht zu gewinnen. Und so stellt sich der Islam dann als ein Problem dar, das er gar nicht ist. Die Verbände vertreten also keineswegs nur den Islam, sie schaden ihm – abgesehen davon, daß es außer dem Propheten selbst gar keinen Vertreter „des“ Islam gibt.

Gehört es nicht zur Integration, daß Migranten ihre Normen zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft einbringen können?

El-Hamid: Zu einem gewissen Teil schon. Integration kann aber nicht durch Gesetze oder Verordnungen erzwungen werden, sondern geschieht durch langwieriges und wechselseitiges Zusammenwirken zwischen Migrant und Gastland – wobei der wesentlicher Teil beim Migranten liegt. Ich kann also nicht kommen und erwarten, daß meine sämtlichen Normen öffentlich akzeptiert werden. Meine Normen sind hier Privatsache, und Deutschland bietet jede Freiheit, sie privat zu leben. Kein arabischer Einwanderer würde es akzeptieren, würden Sie in seinem Land deutsche Normen einfordern. Dessen sind sich diese Menschen übrigens auch bewußt. Also nein, im Gegenteil, es ist sogar abträglich für alle, daß die deutschen Normen immer mehr relativiert werden. 

Inwiefern? 

El-Hamid: Es gibt viele Beispiele. Etwa, daß Leistung nicht mehr ein entscheidender Faktor der Beurteilung der Menschen ist. Dabei hängt Deutschlands Position in der Welt vor allem genau davon ab.

Wie lautet Ihr Fazit?

El-Hamid: Ich rate dazu, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken und sich von der Vorstellung zu verabschieden, jeder sei integrierbar und daß dies nur eine Frage der Zeit, der Mittel und des guten Willens sei. Tatsächlich wird immer nur ein Teil der Menschen die dafür nötigen Voraussetzungen mitbringen.

Dann sind es aber nicht die Einwanderer, die zuerst umdenken müssen, sondern die Deutschen und ihre Politiker? 

El-Hamid: Zur Parteipolitik möchte ich mich nicht äußern, das müssen Sie bitte verstehen. 

Warum?

El-Hamid: Da herrscht naturgemäß viel Ideologie und Polemik, schnell wird etwas falsch aufgefaßt und wirkt dann verletzend. Das möchte ich aber nicht als jemand, der hier einmal freundliche Aufnahme gefunden hat.

Aber Sie sind doch längst Deutscher.

El-Hamid: Seit 1984, ja, aber dennoch. Das ist für mich eine Frage des Respekts. 

Welche Lösung schlagen Sie vor?

El-Hamid: Rückkehrwilligen Flüchtlingen sollte effektiver die Möglichkeit geboten werden, sich in ihrer Heimat mit Unterstützung eine neue Zukunft aufzubauen. Das hilft auch dem Aufbau des Landes. Mit dem Geld, mit dem man hier fünf Syrer versorgt, versorgt man dort fünfzig – oder gar hundert! Ist es nicht unethisch, das Geld zu verwenden, um nur wenigen hier zu helfen, statt besser vielen zu Hause? Zudem: Hier hat man – ist das Geld ausgegeben und der Krieg eines Tages zu Ende – für den Flüchtling nur eine grobe Basis geschaffen. Dort aber hätte man eine Infrastruktur aufgebaut und müßte die Menschen nicht zurück ins Nichts schicken. Die Bundesrepublik gab 2016 etwa 15 Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen hierzulande aus – plus sieben Milliarden zur „Bekämpfung von Fluchtursachen“. Zum Vergleich: Der gesamte syrische Staatshaushalt beträgt zwölf Milliarden! Und schließlich: Ein Teil der Flüchtlinge hat hier, realistisch gesehen, keine Chance. Sie sind weder der gesellschaftlichen Integration noch den Anforderungen des hiesigen Arbeitsmarktes gewachsen. Andere verlieren hier ihren sozialen Status – ein syrischer Rechtsanwalt etwa arbeitet hier vielleicht in einem Callcenter. Daheim hätten viele eher eine Chance, Arbeit, Sinn und Status zurückzugewinnen. 

Aber in Syrien herrscht Krieg. 

El-Hamid: Noch. Es gibt aber schon viele befriedete Gebiete. 

Der Krieg könnte dorthin zurückkehren.

El-Hamid: Seit der Eroberung Aleppos ist er im Grunde militärisch entschieden. 

Ist ein Zurückschicken nach Syrien ethisch wirklich zu verantworten?

El-Hamid: Fast jeder Syrer hier hat noch viele Verwandte zu Hause. Wieso können Sie es nicht verantworten, ihn zurückzuschicken – wohl aber, diese dort zu belassen? Diese Frage hat mir übrigens noch keiner beantworten können.

Würden Sie denn auch Ihre eigene Familie nach Syrien schicken? 

El-Hamid: Meine Familie lebt in Syrien! Nicht meine Frau, sie ist Deutsche, und unsere Kinder, aber sonst viele meiner Verwandten. Und ich besuche sie auch, so oft es geht. Sicher gibt es ein Restrisiko, aber es ist nicht so, daß man in Syrien sofort getötet wird. Dort leben noch etwa 19 Millionen Menschen. Dennoch aber haben Sie nicht ganz unrecht, denn ja, der Krieg wird andauern – weil er künstlich am Leben gehalten wird.

Inwiefern?

El-Hamid: Wenn sie wollten, könnten die USA ihn sofort beenden, indem sie Druck auf Saudi-Arabien, Katar und die Türkei ausübten, die die syrische Al-Nusra-Front – einen Al-Kaida-Ableger – und weitere islamistische Gruppen bewaffnen. Und auch Deutschland könnte mit dafür sorgen, daß dieser Krieg beendet wird.

Überschätzen Sie Deutschland da nicht? 

El-Hamid: Gut, nun ist da Herr Trump, aber grundsätzlich ist Deutschland ein wichtiger US-Verbündeter, dessen Wort weltweit Gewicht hat. Erst recht, wenn es seinen Einfluß in der EU nutzt, die Europäer dazu zu bewegen, es ihm gleichzutun. Doch bisher hat Deutschland es ja noch nicht einmal versucht! Solange es aber nichts dagegen unternimmt, daß fremde Mächte den Krieg in Syrien füttern, wird er fortdauern und Deutschland weitere Flüchtlinge zuführen.   

2011 haben Sie geschrieben: „Dieser Krieg wird zwei Opfer haben – Syrien und Deutschland.“ Wieso Deutschland? 

El-Hamid: Das haben damals wenige hierzulande verstanden. Mir war eben klar, daß mit den Flüchtlingen bedauerlicherweise auch viele der sogenannten tagesaktuellen Probleme und politischen Verworrenheiten hier ankommen werden. Ich habe diese Warnung damals auch an Außenminister Westerwelle geschrieben, aber auch er hat sie nicht verstanden. Statt dessen haben er und andere westliche Politiker und Medien mit ihren Ermunterungen die Syrer regelrecht angestachelt, sich gegen Assad zu erheben. Obwohl sie genau wußten, daß sie ihnen nicht zu Hilfe kommen würden, wenn die Regierung durchgreift – was aber viele Syrer nach den hehren Worten des Westens geglaubt hatten. Und wenn ich jetzt höre, daß manche deutschen Politiker eine aktive Unterstützung der Opposition im Iran fordern! Es muß ihnen klar sein, daß für jedes von uns mitverantwortete neue Desaster im Orient auch Europa und vor allem Deutschland die Zeche zahlen wird. Und das tut mir doppelt leid, liebe ich doch nicht nur meine alte arabische Heimat, sondern inzwischen auch meine neue!  






Dr. Salem El-Hamid, der Chefarzt, geboren 1951 in Syrien, leitete mehrere Kinderkliniken in Deutschland, ist Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft mit Sitz in Bonn und Autor des Buches „Vom Euphrat an den Rhein. Eine syrisch-deutsche Erfolgsgeschichte“ (2016).  

 www.salem-el-hamid.de

Foto: „Ausbildungsbörse“ in Cottbus:  „Die verbreitete Vorstellung, in Deutschland könne man ohne Anstrengung wohlhabend werden, ist fatal. Tatsächlich braucht es äußersten Leistungswillen und Respekt vor den hiesigen Verhältnissen“ 

 

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