© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

Die Todsünden ausleben
Gleichschaltung: Die Debatte um den Autor Simon Strauß ist die Frucht eines bösartig und paranoid gewordenen Kulturbetriebs
Thorsten Hinz

Der neue feuilletonistische Furor richtet sich darauf, Stalins Theorie von der Verschärfung des Klassenkampfes zu bestätigen. Je erfolgreicher der Sozialismus voranschreite, so der große Diktator, desto tückischer und gefährlicher würde der Widerstand seiner Gegner, die sich als Spitzel und Saboteure in den eigenen Reihen einnisteten. Noch mehr revolutionäre Wachsamkeit sei daher nötig! So ging aus der paranoiden Wahrnehmung der Große Terror hervor.

Die Rollen und Frontverläufe sind heute vertauscht. Die alten Deutungseliten haben nach wie vor die klassischen Medien in der Hand, doch ihre Meinungsmacht wird unterspült. Ihre Erklärungsmodelle zerbrechen an der Realität, ihr Vertrauenskapital geht zur Neige. Statt nun die Gründe bei sich und in der Dürftigkeit ihrer Bestände zu suchen, verfallen sie ebenfalls in Paranoia. Ihre Schwadronen schwärmen aus, um angebliche Populisten, Haßredner und Faktenfälscher, aber auch Abweichler, Verräter, Agenten in den eigenen Reihen ausfindig und unschädlich zu machen.

Nun hat es Simon Strauß, Sohn des Schriftstellers Botho Strauß und seit 2016 Feuilletonredakteur der FAZ, getroffen, der im vergangenen Sommer das harmlose Buch „Sieben Nächte“, halb Erzählung, halb Essay, veröffentlicht hat. Der Ich-Erzähler darin ist ein Mann kurz vor dem 30. Geburtstag, der an seiner generationstypischen Existenz ohne Ecken und Kanten leidet: „Ein Sympathiesüchtiger. Einer, der sich leichtfertig zu vielem bekennt, von dem er eigentlich zu wenig weiß.“ Der von sich und seinesgleichen sagt: „Uns fehlt das Feuer. Der Mut. Wir ewigen Zweiten.“ 

Ein Geist macht sich erbötig, ihn siebenmal durch die Nacht zu führen, um die sieben Todsünden auszuleben, auf daß er endlich spüre, wie das Blut in seinen Adern rauscht! Das klingt faustisch oder romantisch oder nach dem Weihnachtsmärchen von Charles Dickens, das düster beginnt und mit einem hellen Finale endet.

Doch bei dem 29jährigen Strauß bleibt alles brav, sehr brav: Der Völlerei frönt der Erzähler in einem Edelrestaurant, wo er sich mit Fleisch vollstopft, um die Kraft des Elementaren zu spüren. Die Verschwendungssucht lebt er beim Wetten auf der Pferderennbahn aus, und die Wollust endet mit zerbrochenen Rotweingläsern und zerplatzten Träumen.

Im onkelhaften Epilog wird indirekt konzediert, daß die nächtlichen Ausflüge banal, kein Bacchanal gewesen sind und die große Sehnsucht in kleinen Späßen versandete. Die Konstallation hätte einen Konflikt ergeben können, wenn er denn ausgetragen worden wäre, wenn es nicht nur zum „neoromantischen Impuls“ gereicht hätte, auf den sich Strauß bei der Verleihung des Debütpreises 2017 des Lübecker Buddenbrookhauses berief, sondern zu romantischer Ironie, die neben dem Erzählgegenstand auch den Erzählakt und den Erzähler ironisiert. Wenn der Autor den „Mut zum Zusammenhang, zur ganzen Erzählung“ an der Gegenwart und an echten Gegnern erprobt, also den Mut zur Wirklichkeit gehabt hätte!

Stattdessen bietet er pompöses Wortgeklingel: „Souverän ist, wer über die stärkste Phantasie verfügt, nicht über die schärfste Ratio. Ein Geheimclub für alle, die noch ans Geheimnis glauben.“ Oder: „Die einzige Sehnsucht, die trägt, ist die nach dem schlagenden Herzen.“ Bei Schmitt- und Jünger-Kennern scheppern die Groschen gleich pfundweise, doch sie merken schnell, daß es sich um spätpubertäre Posen handelt.

Überhaupt wirkt das direkte und indirekte Namedropping lästig. Der Leser fragt sich permanent: Stammt dies von Novalis? Von Benn? Hofmannsthal? Rimbaud? Verlaine? Oder doch von Rilke? 

Trotzdem gefiel der Text den meisten Rezensenten so gut, daß sie ihn als „radikal subjektives und doch allgemeingültiges Manifest, ein poetisches Pamphlet, eine Anklage- und Kampfschrift“ (Deutschlandfunk) nannten. Noch besser die Berliner Zeitung: „In ihm wohnt der Blues einer Zeit ohne Visionen. Strauß setzt ihm die Emphase der Hoffnung entgegen. Die Zukunft gibt er nicht verloren. Sie beginnt erst noch, vielleicht endlich mit diesem Roman.“

Der Bestsellerautor Florian Illies („Generation Golf“) traut dem Werk zu, „das Buch der nächsten Generation“ zu werden. Klein, kompakt sei es und doch seltsam warmblütig, schnell zu lesen, doch schwer zu vergessen! Nun ja. Der Kulturbetrieb brauchte frisches Futter.

Jetzt hat der Wind sich gedreht. Im November 2017 erschien im britischen Guardian ein längerer Artikel, der Strauß’ Buch, die deutsche Romantik und die AfD in einen Zusammenhang brachte. Die üblichen Klischees halt. Zwar erklärte der Jungschriftsteller pflichtgemäß, der Erfolg der AfD habe ihn „schockiert“, doch die Geschichte war in der Welt. Der Spiegel meinte plötzlich, Strauß sei „nicht völlig unschuldig daran“, daß „manche ihn für einen Neurechten und AfD-Sympathisanten halten“. Die taz keifte: „Man kann nur hoffen, daß Simon Strauß, der im Gewand der Romantik Pamphlete für die Neue Rechte schreibt, nicht der neue Messias der deutschen Literatur wird.“ Und so weiter.

Zwei weitere außerliterarische Delikte werden Strauß zur Last gelegt. In einem FAZ-Artikel hatte er die politische Überfrachtung der Gegenwartskunst kritisiert und sich auf einen Aufsatz in der Vierteljahreszeitschrift Tumult bezogen. Außerdem gehört er zu den Gründern des „Jungen Salons“ in Berlin, der 2016 auch den neurechten Verleger Götz Kubitschek zu einer Diskussion geladen hatte. Flugs werden die sanften „Sieben Nächte“ als satanische Verse gedeutet, die der Schwarze Ritter aus Schnellroda dem ästhetisierenden Dichter eingegeben hat. Es ist eine grundfalsche Debatte, die sich am falschen Objekt entzündet.

Der Verlust historischer und ästhetischer Maßstäbe erweist sich in der Art und Weise der Romantik-Kritik. Für den Philosophen Georg Lukács, der ein genialer Kopf war, aber auch stalinistische Macken hatte, führte von Novalis ein gerader Weg zu Adolf Hitler. Lukács’ Dogmatismus wurde in der DDR durch die dialektische Rezeption des Satzes aus dem „Kommunistischen Manifest“ überwunden, die Bourgeoisie habe „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“ und die menschlichen Beziehungen auf den Tauschwert reduziert. Die Romantik wurde – trotz des weitgehend konservativ-religiösen Gehalts – als Reaktion auf die kapitalistische Versachlichung interpretiert, die revolutionäres Potential in sich barg.

Autoren wie Christa Wolf nutzten die Romantik als „Projektionsraum“, um den Allmachtsanspruch der Partei zu kritisieren und die Individualität und Phantasie zu verteidigen. An diese Tradition versucht Simon Strauß anzuknüpfen. Über melancholische Selbstbeschreibungen und falsche Bedeutsamkeiten ist er vorerst nicht hinausgekommen. Das festzustellen ist jedoch etwas anderes, als die Legitimität seines Versuchs zu bestreiten. Seine Kontrahenten fallen hinter die DDR zurück, indem sie versuchen, die totale Versachlichung des Menschen, seine Reduktion zum Produzenten und zum Konsumenten von Waren und Informationsschnipseln außerhalb der Kritik zu stellen.

Das Treffen im „Jungen Salon“ verlief für Kubitschek übrigens ernüchternd. Er traf, wie im Buch „Die Spurbreite des schmalen Grats“ nachzulesen ist, auf intelligente junge Leute, die sich als kühle Macher gerieren, die den multikulturellen Umbau der europäischen Nationen als ein lediglich sozialtechnisches Problem und die Geschichte als im doppelten Sinne vergangen betrachten.

Simon Strauß zumindest scheint die Illusion des Posthistoire-Zeitalters nicht zu teilen. Der promovierte Althistoriker geht in „Sieben Nächten“ bis ins alte Rom zurück, um ein Modell für ein Zusammenleben mit Zuwanderern zu skizzieren. Doch bleibt es beim Zitat.

„Ich will wieder den Wunsch nach Wirklichkeit spüren, nicht nur nach Verwirklichung.“ In diesem Satz – der vielleicht nur ein semantischer Lapsus ist – konzentriert sich die ganze Schwäche des Buches. Die Wirklichkeit interessiert den Erzähler nicht pur, sondern als Stimulus für das eigene Befinden. Der Vorhang wird aufgezogen, er schaut nach draußen, doch das Fenster bleibt geschlossen, kein kalter Luftzug dringt ins Zimmer. 

Die Welt, in der das Buch handelt, ist hermetisch. Die Todsünde des Hochmuts lebt der Erzähler aus, indem er den Bettlern den Becher weghaut, Musikschülern die Wollmützen vom Kopf schlägt und Bratwurstverkäufer und radelnde Jungväter mit Spott bedenkt. Wie tapfer! Die Konfrontation mit messerzückenden Jugendbanden erspart er sich wohlweislich. Er lernt stattdessen einen syrischen Unternehmer kennen, dessen Zertifikate in Deutschland nicht anerkannt werden – „Formulare, Formulare“ – und der „als Lehrling von vorne anfangen muß“.

Statt ins kalte Wasser zu springen, hat der Autor den Zeh in den nassen Sand gestippt, nachdem die Meereswelle sich zurückgezogen hat. „Sie heben die Zehlein, die Rehlein“, heißt es bei Christian Morgenstern. 

Doch das genügt schon, um die ideologischen Platzhirsche in Wallung zu bringen! Die Debatte um Simon Strauß ist ungerecht, dumm, parasitär, sie ist die Frucht eines bösartig und paranoid gewordenen Kulturbetriebs. Sie zielt auf Gleichschaltung.

Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar, Berlin 2017, gebunden, 144 Seiten, 16 Euro