© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

Es braucht einen langen Atem
Stadtgestaltung: Das brachliegende Areal der Berliner Altstadt muß wiederbelebt werden
Peter Möller

Wer in Berlin nach der Altstadt fragt, erntet sehr wahrscheinlich ein verständnisloses Schulterzucken. Mit etwas Glück wird er ins Nikolaiviertel geschickt. Dort, rund um die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Nikolaikirche, hatte das SED-Regime zur 750-Jahrfeier Berlins 1987 einige der wenigen erhaltenen Vorkriegsbauten zusammen mit rekonstruierten Häusern und historisierenden Plattenbauten zu einer eigentümlichen Melange zusammengeführt, die eine Art Berliner Altstadt simulieren sollte. Das Kuriose: Es funktioniert. In den Gassen kommt tatsächlich so etwas wie Altstadtstimmung auf, die nicht nur von den zahlreichen Touristen geschätzt wird. Die Straßen sind eng und verwinkelt, und selbst der weite Berliner Himmel wird plötzlich etwas kleiner.

Doch das Nikolaiviertel, das jetzt unter Denkmalschutz gestellt werden soll, ist nur ein kleiner Teil der einstigen Berliner Altstadt – und es ist eine Insel. Rings herum tost der Verkehr auf überdimensionierten und ohne Rücksicht auf den historischen Stadtgrundriß geschlagenen Schneisen. Nördlich des Viertels erstreckt sich längs der Spree gegenüber dem wiederaufgebauten Stadtschloß eine Art städtisches Niemandsland. Dieses unwirtliche Brachland zieht sich Richtung Osten bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz.

Hier, wo einst in Sichtweite des Stadtschlosses das städtische Leben pulsierte, haben die sozialistischen Stadtzerstörer das Werk der Bombennächte des Zweiten Weltkrieges vollendet. Kaum jemand, der diese städtebauliche Einöde auf dem Weg von der Prachtstraße Unter den Linden hin zum Alexanderplatz durchquert, ahnt heute noch, daß sich anstelle der ungepflegten Parkanlagen und asphaltierten Freiflächen einst dichtbebaute Altstadtquartiere befanden. Einzig die gotische Marienkirche, die wie durch ein Wunder unzerstört durch den Krieg gekommen ist, läßt etwas von der Vergangenheit erahnen. Doch das Gotteshaus im Schatten des Fernsehturms und der hoch aufragenden Plattenbauten entlang der breiten Karl-Liebknecht-Straße wirkt seltsam fremd und verloren an diesem Ort.

Historische Identität sichtbar machen

Doch das muß nicht so bleiben. Gerade diese häßlichen Flächen im Herzen Berlin bieten eine große Chance: Unter dem Motto „Baut Berlin endlich wieder auf“ könnte an dieser für die Stadtgeschichte so wichtigen Stelle wieder etwas von Berlins historischer Identität sichtbar gemacht werden. Andere vom Krieg schwer gezeichnete Städte machen es gerade vor: In Frankfurt am Main geht die teilweise rekonstruierte Altstadt zwischen Römer und Kaiserdom der Vollendung entgegen. Anstelle eines brutalen, alle historischen Dimensionen sprengenden Betonbaus entstand in den vergangenen Jahren auf dem alten Stadtgrundriß ein Mix aus historisch exakt rekonstruierten Leitbauten und modernen Gebäuden. Der Ansturm auf die neu entstandenen Wohnungen zeigt, daß die Bürger diese Art der Stadtreparatur dankbar annehmen. Ähnliche Projekte gibt es derzeit unter anderem in Potsdam und Lübeck.

Warum also nutzt nicht auch Berlin die Chance, aus einem städtischen Brachland einen lebendigen Stadtraum zu schaffen, der sich an der Geschichte der Stadt orientiert? Berlin wäre nicht Berlin, wenn ein so einschneidendes Projekt ohne erbitterten Widerstand über die Bühne gehen würde. Vor allem die Linkspartei und alte SED-Kader verteidigen seit Jahren mit Zähnen und Klauen die „sozialistische Stadt“ zwischen Spree und Alexanderplatz. Vor allem seit der DDR-Vorzeigebau „Palast der Republik“ für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses weichen mußte, wird die nach sozialistischen Vorstellungen gestaltete Stadtmitte um so verbissener verteidigt.

Doch der Widerstand der Linken speist sich nicht nur aus DDR-Nostalgie, sondern ist auch ideologisch motiviert. Denn nachdem die kleinteilige Altstadt beziehungsweise das, was der Krieg übriggelassen hatte, in den fünfziger und sechziger Jahren abgeräumt worden war, wurden auch die zugrundeliegenden „bürgerlichen“ Eigentumsverhältnisse durch Verstaatlichung der Grundstücke beseitigt. Eine für den Wiederaufbau der Altstadt notwendige Reprivatisierung der Grundstücke wird mit der Behauptung, dort würden dann nur Wohnungen „für Reiche“ entstehen, heftig bekämpft.

Dennoch: Die Pläne für eine neue Altstadt liegen schon seit Jahren auf dem Tisch. Bereits 2009 legte der langjährige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann unter dem Titel „Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte“ ein umfangreiches Plädoyer für die Neubebauung des historischen Berliner Stadtzentrums in Form eines Bildbandes vor (Neuausgabe 2014). Darin sind detaillierte Planungen für die Bebauung der Freiflächen enthalten, die sich eng an der Stadtstruktur der Vorkriegszeit orientieren, aber gleichzeitig auch moderne Gegebenheiten aufgreifen, wie etwa die Eingänge zur im Bau befindlichen U-Bahnlinie U5. Und selbst für das überlebensgroße Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels, das derzeit auf einer Wiese an der Spree steht, hat Stimmann einen Standtort eingeplant – ebenso wie natürlich für den hochaufragenden Fernsehturm, dessen Sockel in den Plänen einfach mit Häusern umbaut wird und so quasi in einem Hinterhof verschwindet. Kernpunkt der skizzierten Pläne ist die Wiederherstellung der kleinteiligen Grundstücksparzellen als Grundlage für eine erfolgreiche Wiederbelebung der bürgerlichen Stadt.

Verschärfte Lage auf dem Wohnungsmarkt

Für die Gebäude der neuen Berliner Altstadt sehen die auf Stimmann zurückgehenden Entwürfe eine durchweg moderne Gestaltung vor. Doch hier dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Die Verantwortlichen in Lübeck haben einen Weg vorgegeben, der auch für Berlin gangbar wäre. Für die Wiederbebauung des Areals des historischen Gründerviertels hat die Hansestadt zwar weitgehend auf exakte Rekonstruktionen verzichtet, dafür aber eine strenge Gestaltungssatzung erlassen, die den privaten Bauherren genaue Vorgaben macht. So wird sichergestellt, daß sich die Neubauten an der hanseatischen Bautradition Lübecks orientieren.

Nicht nur aus der Perspektive einer Stadtreparatur wäre die Bebauung des brachliegenden Berliner Altstadtareals sinnvoll. Angesichts der sich verschärfenden Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt erscheint eine Nutzung des historischen Stadtzentrums als Wohngebiet eigentlich selbstverständlich. Doch was ist in Berlin schon selbstverständlich. Die jahrzehntelangen Diskussionen über den Wiederaufbau des Stadtschlosses haben gezeigt, daß in solchen Fragen ein langer Atem notwendig ist. Oder positiv gewendet: Die Rückkehr der Berliner Altstadt ist nur noch eine Frage der Zeit.

Hans Stimmann: Berliner Altstadt: Neue Orte und Plätze rund um das Schloß. DOM publishers, Berlin 2014, gebunden, 216 Seiten, 48 Euro