© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

Der stille Rückzug des Islam
Der Islamismus täuscht: Michael Blume sieht auch bei der Religion Mohammeds den Zenit des Einflusses lange überschritten
Gabriel Burho

Der Islam ist in aller Munde – und dabei ist schon der Artikel am Anfang dieses Satzes falsch gewählt. Die Vorstellung eines monolithischen Islam ist ebenso falsch wie die eines einheitlichen Christentums. Während global ein Erstarken von Religionen beobachtet werden kann, scheint dies in den islamischen Ländern besonders machtvoll zu geschehen. Islamistische Parteien und Vorstellungen sind überall auf dem Vormarsch. Vor diesem Hintergrund erscheint die These des Religionswissenschaftlers Michael Blume, der Islam befände sich in einer schweren Krise, zunächst merkwürdig.

Blumes Hauptthese zufolge ist für den Niedergang der islamischen Hochkultur eine Entscheidung im Jahr 1482 verantwortlich, deren Folgen bis in die heutige Zeit hineinwirken. Damals entschied der osmanische Sultan Bayezid II., daß arabische Schriftzeichen nicht mit beweglichen Lettern gedruckt werden sollten. Die Angst, die heilige Sprache des Koran durch unkontrollierbaren Buchdruck zu verwässern, führte in der Folge jedoch dazu, daß die gesamte islamische Welt von der Wissensproduktion abgeschnitten wurde. 

Anschluß an den Fortschritt  in der Wissenschaft verloren

Zunächst schienen die Ereignisse Bayezid II. jedoch recht zu geben. Mit dem Erfolg des Buchdrucks konnte Luthers Reformation schnell Anhänger gewinnen. Jahrhunderte von Revolutionen, Aufständen und Kriegen mit Millionen von Toten waren die Folge – ebenso wie die Aufklärung und die naturwissenschaftliche Revolution. Die islamische Welt blieb von diesen Krisen verschont und ruhig. Gleichzeitig verlor sie den Anschluß an den wissenschaftlichen Fortschritt und die eigene Wissens-produktion nahm nicht in dem Maß an Fahrt auf wie in Europa. 

Im 19. Jahrhundert kam dann der Moment des schrecklichen Erwachens: An allen Grenzen waren die europäischen Mächte auf dem Vormarsch. Die jahrhundertealten islamischen Imperien hatten den Europäern weder am Bosporus noch in Ägypten oder in Indien etwas entgegenzusetzen. Auf der Suche nach Antworten verfiel die islamische Welt dann auf Verschwörungstheorien. Diese nutzen indes keine islamischen Motive (beispielsweise Dschinnen) sondern rekurrieren auf einschlägige westliche Theorien (Die Protokolle der Weisen von Zion, Freimaurer, Illuminaten usw.).

Der Ölboom brachte neue Probleme. Aufgrund der Milliardeneinnahmen durch Öl waren die Herrscher in den meisten islamischen Ländern nie gezwungen, funktionierende Wirtschaftssysteme zu entwickeln, sondern erkauften sich den sozialen Frieden und die Absicherung ihrer Herrschaft über wohlfahrtsstaatliche Verteilung der Einnahmen. Bildung und Wissenschaft wurden entsprechend ebensowenig gefördert wie Unternehmergeist. So wurden demokratische Entwicklungen, auch durch starke Bündnis- und Wirtschaftspartner im Westen, unterdrückt und die Entwicklung einer bürgerlichen Mittelschicht ausgebremst.

Blume zufolge sehen sehr viele Muslime diese Krisen und reagieren entweder mit Aggression oder innerem Rückzug darauf. In diesem Kontext verweist er auf einen wichtigen Punkt zum Verständnis auch der bundesdeutschen Statistiken: Während amtlich als Christen nur diejenigen gezählt werden, die einer organisierten christlichen Religionsgemeinschaft angehören, wird bei Muslimen gezählt, wer aus einem islamischen Land kommt oder muslimische Eltern hat. Dagegen hält Blume, daß es einen schnell wachsenden Anteil von Menschen mit Glaubenszweifeln gäbe, der mit der Religion wenig oder gar nichts mehr zu tun habe und sich von den Moscheeverbänden nicht vertreten fühle. 

Da Apostasie im Islam aber zu den so genannten Grenzstrafen (die einzigen fünf Delikte, die im Koran genannt werden und deren Strafmaß festgelegt ist: Diebstahl, Raub, Alkoholkonsum, Unzucht und Verleumdung) gezählt wird, heißt Säkularisierung im Islam immer „stiller Rückzug“. Im Gegensatz dazu seien diejenigen, die mit Gewalt und Terror auf die Krise reagierten, in der Minderheit, aber fielen entsprechend mehr auf und prägten das Bild des heutigen Islam.

Den Weg aus der Krise sieht Blume in einem selbstkritischen Blick auf die eigene Geschichte, den Muslime wagen und aushalten müßten. Der Dreißigjährige Krieg habe auch in Europa dazu geführt, daß Religion zunächst zum bestimmenden Element der Politik wurde und dann, nach Millionen von Toten, in den privaten Bereich verbannt worden sei. Möglicherweise sehen wir diese Entwicklung auch gerade im Islam.

Zu sehen, daß der Islam, oder besser die meisten Facetten der islamischen Religion, sich in einer Krise befinden, ist nicht neu. Auch der Umstand, daß viele Muslime sich innerlich von „ihrer“ Religion abwenden, wurde bereits von mehreren Autoren genannt. Blumes Verdienst ist ein allgemein verständlicher Schreibstil und die Untermauerung seiner Thesen durch Statistiken und überprüfbaren Fakten. Damit bietet es einen Ansatz für einen kritischen Dialog, dem sich auch gläubige Muslime stellen werden müssen.

Michael Blume: Der Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug. Patmos Verlag, Ostfildern 2017, broschiert, 192 Seiten, 20 Euro