© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

25 Jahre „Anschwellender Bocksgesang“
Das schwierige Selbstbewußtsein
Dieter Stein

Wann hat zuletzt ein Dramaturg eine politische Großdebatte ausgelöst? Einem feingeistigen, scheuen Schriftsteller, der die Öffentlichkeit und Talkshows meidet, gelang dies mit einem Zeitschriftenaufsatz zweieinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung. Der „Anschwellende Bocksgesang“ von Botho Strauß erschien am 8. Februar 1993 im Spiegel und löste ein Erdbeben nicht nur in den Feuilletons aus. Eine monatelange gesamtgesellschaftliche Diskussion entbrannte, bei der es um nichts weniger als das Selbstverständnis unserer Nation ging.

Deutschland war zur Wiedervereinigung gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Die westdeutsche politische Klasse hatte sich längst mit der Teilung des Landes arrangiert und wähnte sich im postnationalen Zeitalter. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Implosion des kommunistischen Machtbereichs mündete in einen Völkerfrühling, in die Wiedergeburt der ost- und mitteleuropäischen Nationalstaaten.

Daß Deutschland historisch erledigt sei, war für Teile der Eliten psychologisch einfacher zu verkraften als ein „Rückruf in die Geschichte“ (Karlheinz Weißmann), die Rückkehr unserer Nation als Subjekt. Die Erschütterung des Selbstverständnisses, die die Wiedervereinigung auslöste, entlud sich während der Asylkrise 1992/93, als – ähnlich wie 2015 mit der aktuellen Migrationswelle – Deutschland im Zuge der Balkankriege Hunderttausende Flüchtlinge aufnahm. 

Botho Strauß litt unter der Mißachtung des Wertes der Nationalgeschichte, der Herabwürdigung von Tradition, Religion und der Unterwerfung unter eine „Totalherrschaft der Gegenwart“, er zählte zu den wenigen namhaften Intellektuellen, die vor 1989 in ihrem Werk die deutsche Teilung thematisiert und an der Einheit festgehalten hatten.

Der „Bocksgesang“ war für uns ein gewagtes Manifest gegen den „verklemmten deutschen Selbsthaß“ einerseits, mit dem Botho Strauß das „Rechte“ andererseits vom Nationalismus eines rechtsextremen Milieus scharf schied, das als „abscheuliche und lächerliche Maskerade einer hündischen Nachahmung“ zur gewünschten Karikatur wurde, auf die man das Nationale gerade zu reduzieren und damit zu erledigen hoffte.

Es lag damals in der Luft, daß sich mit der „Berliner Republik“ eine neue „Selbstbewußte Nation“ herauskristallisieren würde, wie zwei programmatische Bücher im Kielwasser der Debatte hießen. Für einen Niederschlag in der Politik war es damals offensichtlich zu früh. Die Debatte wurde letztlich entlang der Machtverhältnisse in den Redaktionsstuben und Verlagszentralen entschieden – und wieder erstickt. Was blieb, war eine neue, durch die Erfahrungen der „Bocksgesang“-Debatte geprägte Generation, die sich heute in einer veränderten politischen Lage wiederfindet, in der die Gewichte anders verteilt sind als 1993.