© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

„Das totalitäre Monster“
Der Schriftsteller Ulrich Schacht erlebte vor 25 Jahren die elektrisierende Wirkung des „Anschwellenden Bocksgesangs“ – vor allem aber die Welle der Wut, die sich gegen Botho Strauß und seinen Essay Bahn brach
Moritz Schwarz

Herr Schacht, 1993 war Botho Strauß’ Essay ein Paukenschlag. Wie war das für Sie?  

Ulrich Schacht: Als der „Anschwellende Bocksgesang“ damals im Spiegel erschien, war ich – nach DDR-Haft und Studium in Hamburg – Leitender Redakteur für Kulturpolitik der Welt am Sonntag: Da verstand sich das Elektrisiertsein durch die Lektüre von selbst. Zumal ich nach langer Mitgliedschaft gerade aus der SPD ausgetreten war.

Warum? 

Schacht: Wegen der vollständigen Aufgabe ihrer programmatischen Positionen in Sachen Nationalstaat und Wiedervereinigung. Zugleich hatte ich Bücher veröffentlicht, kannte also den Literatur- und Medienbetrieb und die dort herrschende Ideologie von innen und damit das Milieu, das nun begann, mit einem an Tollwut grenzenden Beißreflex auf Strauß und seinen Text loszugehen. In der damals populären Woche griff Tilman Spengler in maoistischem Vernichtungsstil den Autor an; offenbar hatte er sich schon während der Arbeit an seinem Buch „Lenins Hirn“ mit dem Leichengift dieses totalitären Monsters infiziert. 

Aber die Debatte erschütterte doch das gesamte Feuilleton. 

Schacht: Ja, andere zogen nach. Die Geister schieden sich ein weiteres Mal: Hier die „fortschrittlichen“ Antifa- und Selbsthaßtotalitären mit ihrer Sympathisanten-Szene bis tief ins linksliberale Universitäts-, Medien- und Parteien-Milieu. Dort die Rechts- und Sozialstaatsverteidiger, denen der grenz- und kulturell geschützte Nationalstaat eine logische Notwendigkeit war; inklusive einer umfassenden Diskursfreiheit und der Wissenspflicht, nie wieder ins Totalitäre abzugleiten. An diesem Praxisprogramm hatte sich übrigens die große Mehrheit der Ostdeutschen mit ihrer friedlichen Revolution instinktsicher orientiert. Genau das aber hat sie in den Augen der ersteren bis heute desavouiert, und der Chefideologe jenes Sonderbewußtseins westdeutscher Machart, Jürgen Habermas, hat das in zahlreichen marschbefehlartigen Texten verkündet: Tod dem Nationalstaat, Heil dem Weltstaat! Erst das Brüssel-, dann das Uno-Utopia! 

Strauß’ Essay stellte sich also quasi quer zum damaligen „Marschbefehl“ an die Gesellschaft? 

Schacht: Ja, obwohl etwa die CDU unter Kohl dieses pathologische Selbstverhältnis, bis auf ein paar Ausnahmen, damals immerhin noch weit von sich gewiesen hat. Heute hat auch sie es, offenbar mit Hilfe grüner Jakobiner beim Pizzaessen, verinnerlicht. Und der globale Finanzkapitalismus reibt sich angesichts solcher Zuarbeit die profitnassen, dra­ghihaften Schwitzfinger und geht noch fortschrittlicher über Leichen, mit Hilfe von Sozialdemokraten wie Tony Blair oder Christdemokraten wie EU-Kabinettschef Martin Selmayr, dem, so der Spiegel, „Rasputin“ Junckers.

Sie konnten Botho Strauß dann für ein Buchprojekt gewinnen. Welche Bedeutung hatte das Erscheinen Ihres Sammelbandes ein Jahr später?  

Schacht: Als mein Welt-Kollege Heimo Schwilk und ich mit Rainer Zitelmann, dem Verleger, auf die Idee eines Buchprojekts um den Strauß-Text herum kamen, kam es auch zu einem Besuch von Schwilk und mir beim Autor des „Bocksgesangs“ in seinem Haus in der Uckermark. Das Ergebnis ist bekannt und heißt seitdem „Die selbstbewußte Nation“, erschienen 1994 bei Ullstein. Es gelang uns, ein vielfarbiges Autorenspektrum für den von uns initiierten Diskurs zu gewinnen, von Brigitte See­bacher-Brandt bis zu Michael Wolffsohn, um nur zwei von knapp dreißig Dichtern, Politikern und Denkern zu nennen. Programmatisch gesehen, war das quasi die beste Regierungskoalition, die das wiedervereinigte Deutschland hätte haben können, um eine selbstbewußte Nation zu werden: selbstkritisch und sich selbst achtend in einem. 

Etliche Kritiker deuteten das Erscheinen  des „Bocksgesangs“ in Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 und einer sich seitdem angeblich vollziehenden Renationalisierung als Teil eines rechten „Rollbacks“. Verschwörungstheorie oder zutreffende Analyse? 

Schacht: In Kämpfe dieser Art zieht man nicht mit der falschen, utilitaristisch gestimmten Erfolgshoffnung: Man kämpft! Im Sinne des „Mythos des Sisyphos“ und des „Menschen in der Revolte“. Es geht um die Sekunde der Freiheit beim Wiederaufheben des Steins, von dem man weiß, daß er nicht oben bleiben wird. Es ist die Sekunde des Glücks durch geistige Souveränität – so wie der „Mensch in der Revolte“ für eine Einheit kämpft, die sich auf ein „Ja“ stützt, wie Camus sagt –, während die Revolution die Totalität will, die auf absoluter Verneinung basiert und sich „zu jeder Knechtschaft verurteilt, um ein Ja hervorzubringen“. Die Revolte ist für Camus deshalb schöpferisch, die Revolution nihilistisch. Und damit beschreibt sich auch der Grundkonflikt der Stunde. Insofern ist „Die selbstbewußte Nation“ eine buchgewordene Revolte gewesen, die nicht nur immer noch nachwirkt, die auch parteipolitisch inzwischen im Sinne von Marx zur materiellen Gewalt geworden ist. Die Sitzverteilung im neuen Bundestag beweist es unübersehbar.

Welche Passage des Essays würden Sie als die zentrale bezeichnen? 

Schacht: Es gibt viele Passagen im „Anschwellenden Bocksgesang“, die man zitieren müßte, weil sie Erkenntnis stiften durch die radikale Entschleierung der mit wallenden Tarngewändern verhüllten totalitätssüchtigen Macht, auf denen dicht an dicht zukunftsgüldene Glücksphrasen und -symbole gestickt sind – inzwischen gehört auch der goldene Halbmond zur verheißungsvollen Motivfülle. Das Christenkreuz allerdings kaum noch. Die beiden höchsten Kirchenfürsten Deutschlands haben es ja auch schon abgelegt.

Am meisten Anstoß erregte vielleicht Strauß’ Verständnis für Sprache und Sittengesetz eines Volkes: „Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.“ 

Schacht: Der Historiker Reinhart Koselleck hat ja bereits 1959 in „Krise und Kritik“ den Ursprung dieser, wie er sagt, „Pathogenese der bürgerlichen Welt“ freigelegt, die einer Fiktion von „rational durchgeplanter Wirklichkeit“ nachjagt und ihre permanente Revolution dermaßen brutal vorantreibt, daß sie immer wieder „die Diktatur aus sich gebiert, um die ungedeckten Wechsel einzulösen“. Strauß setzt solche Generalerkenntnis zum einen voraus, erweitert sie aber um den entscheidenden Blickwinkel unserer Zeit: den auf das „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“, das er die „unblutigste Gewaltherrschaft“ wie den „umfassendsten Totalitarismus der Geschichte“ nennt. 

Sie meinen die Passage „der Liberale ist – in seinem öffentlichen Amt – geltungssüchtig und wird folglich immer rücksichtsloser liberal“?

Schacht: Ich meine, daß wer heute die hohntriefenden oder haßverzerrten Masken von Figuren der öffentlich-rechtlichen Medien – die behaupten, Nachrichten zu verkünden – bei der täglichen Arbeit der Lüge durch dreisteste Manipulation beobachtet – also die Physignomien der Slomka, Miosga oder Kleber, wenn sie den Feind vor sich haben, wahlweise Trump, Putin, Orbán, Farage, Gauland oder gleich die ganze AfD, gleich ob im Interview oder im Text –, der sieht doch plötzlich mitten in Deutschland nordkoreanisches Fernsehen: fanatisches Augenrollen, haßbebende Stimme, siegessicheres Lächerlichmachen. Und für diesen Journalismus gibt es dann die entsprechenden Medien-Preise: die Goldene Brechstange für den größten Schlagtotmut oder das Zwerghuhn in Kunstharz für den kreischendsten Geistesabsturz. Ganz anders dagegen, wenn die Ex-FDJ-Funktionärin Merkel im Talksessel von Frau Maisch­berger Platz nehmen darf.

Nämlich?

Schacht: Na, die wird doch befragt wie die Mutter Teresa. Dabei ist sie die Hauptfigur einer weiteren „großen Maskerade des Bösen“, von der Bonhoeffer 1943 gesprochen hat. Auch das aktuell Böse tritt ja „in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten“ auf. Da kommt natürlich kein Lagerfeld zum Zuge, der die gesetzesbrecherische Grenz­öffnerin und ihre keitelartigen Mittäter in moralische Totalhaftung nimmt für die massenhafte illegale Einschleusung von in Juden- und Israelfeindschaft Erzogenen, in das Land, das mit der Erbschaft der Judenvernichtung durch die Geschichte gehen muß. Für mich ist das der widerlichste doppelmoralische Auftritt deutscher Nachkriegspolitik, der jemals stattgefunden hat. Selbst Ulbricht mit seiner Mauerbau-Lüge wirkt provinziell dagegen. Hat Frau Maischberger aber den neuen Kanzler Österreichs im Studio, wird sie fragendreist, tonpampig und hetzt zuletzt die altmaoistische Kampfdogge Trittin auf ihn los, den das westdeutsche fortschrittliche Bürgertum ja für zivilisiert hält, weil er Anzug und Weste trägt. Wir erinnern uns: Schon einmal ist dieses deutsche Bürgertum auf einen Frackträger hereingefallen. Der Paragraph der Volksverhetzung jedenfalls ist inzwischen auch auf zahlreiche Beiträge in den öffentlich-rechtlichen Medien anwendbar. 

Ist es angesichts der Entwicklung seit 1993 heute Zeit für einen neuen „Bocksgesang“? Oder haben sich die düsteren Voraussagen des Originals inzwischen erfüllt – war er die letzte Warnung, und nun ist es zu spät?  

Schacht: Da ich Christ bin, sind meine politischen Hoffnungsbilder nicht an innerweltliche Erlösungsmodelle gebunden. Im Sinne Luthers und seiner Lehre von den zwei Regimenten trenne ich hier vielmehr scharf und bin eben deshalb auch ein kompromißloser Gegner aller Endlösungsversuche geschichtlicher Art, also jeder Form von universalistisch programmierter Revolution, in welcher Gestalt auch immer, selbst die rassenbiologisch grundierte war ja eine solche. Die große Differenz zwischen Deutschland und Rußland heute – um eine perspektivische Vergleichsgröße ins Spiel zu bringen – sehe ich in der Bereitschaft Rußlands, die einzig richtige Lehre, wenn man so will, aus seiner totalitären Erfahrung zu ziehen – die übrigens eine westlich inspirierte war –, und die liegt in einer konsequenten Rückkehr zum tief verwurzelten Eigenen, einer im Wortsinne radikalen Re-Christianisierung. Um so die schrecklich verwundete Seele des größten Landes der Erde und seiner Menschen zu heilen und damit sein Gemeinwesen angesichts all der ungeheuren Herausforderungen unserer Zeit wieder zu stabilisieren – ihm Lebensmut zu geben, Identitätsgrund und Hoffnungskraft. 

Was aber ist mit Deutschland? Strauß hat dessen Sache bereits damals im „Bocksgesang“ verloren gegeben: „Der Leitbild-Wechsel, der längst fällig wäre, wird niemals stattfinden. Zum Sturz des faulen Befreiungszaubers, des subversiven Gemütskitsches wird es nicht kommen.“  

Schacht: Das heutige Deutschland hat dagegen, nach zwei totalitären Gesellschaftsentwürfen, offenbar Geschmack an einem dritten gefunden. Einen, in dem sich Links- und Profitradikale zur finalen Totalökonomisierung der Welt zusammengefunden haben, um die endgültige Glücksdiktatur zu schaffen. „Die Geschichte der totalitären Demokratie“ heißt das Hauptwerk des jüdischen Geschichtsdenkers Jacob L. Talmon: Es ist die Geschichte des aufgeklärten Westens. Wer in diesem Sinne „westlich“ werden oder sein will, muß Diktatur werden wollen oder sein. Heinrich August Winkler, eine Art Treitschke unserer Zeit, sieht das gegenwärtige Deutschland nach langem Marsch durch die Geschichte endlich in diesem aufgeklärten Westen angekommen. Das bedeutet, er hat nicht bemerkt, daß es seit 1933 nur im Kreis gegangen ist: von einer Diktatur in die nächste. Die antitotalitäre Phase zwischen 1949 und 1990 liegt jedenfalls hinter uns. 






Ulrich Schacht, den Texten des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers und Lyrikers (zuletzt Eichendorffpreis 2013 und Preis der LiteraTour Nord 2016 für die Novelle „Grimsey“) bescheinigte bereits Heiner Müller eine „kristalline Melancholie“. Literarisch beeindruckte die erzählerische „Naturgewalt“ (Tagesspiegel) die Feuilletons immer wieder, etwa 2001 mit dem Band „Verrat. Die Welt hat sich gedreht“. Nun ist ihm mit „Notre Dame“ (2017) ein „großer Wenderoman“ (Cicero) von „hoher sprachlicher Eleganz“ (Deutschlandfunk) gelungen. Geboren wurde Schacht 1951 im Stasi-Gefängnis Hoheneck in Stollberg/Sachsen. 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet und 1976 freigekauft, studierte er Politologie und Philosophie, war Chefreporter für Kultur der Welt und Welt am Sonntag, schrieb unter anderem für Zeit, SZ, Cicero und Focus und ist Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. 

Foto: Romanautor und Lyriker Schacht am Neujahrstag 2017 in Venedig: „Das Millieu begann mit einem an Tollwut grenzenden Beißreflex auf Botho Strauß und seinen Text loszugehen“  

 

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