© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Chronik einer Feuilletonschlacht
Vor 25 Jahren erschien der Großessay „Anschwellender Bocksgesang“: Ein „Zeugnis der Antwortlosigkeit“ auf die Wiedervereinigung durch das verneinende Weiter-so des etablierten Milieus

8. Februar 1993

Der Essay von Botho Strauß erscheint im Spiegel. 

10. Februar 1993

Thomas Assheuer schreibt unter dem Titel „Was ist rechts?“ in der Frankfurter Rundschau: „Schon länger gab es Warnzeichen, daß die Medusa des Unheils, die der Autor in die Kammer ließ, nun als politische Heilsgöttin zurückkehrt: Der Dichter und sein Schrifttum als Retter im geistigen Raum der Nation.“

13. Februar 1993

„Ist Botho Strauß ein Faschist?“ fragt Willi Winkler in der taz und meint: „Sturzbetrunkene Sätze sind das, tief geschöpft aus dem Blutbrunnen des Heiligen Deutschland“, es marschiere, „die Blutfahne hoch, die Reaktion“.

18. Februar 1993

Tilman Spengler kritisiert in der Woche („Der Ekelpegel sinkt“), Botho Strauß lasse die Geschichte des Holocaust „auf der Strecke“ bleiben, er wolle „ganz einfach die alten Verhältnisse ohne ihre Schattenseiten“.  Spengler nennt Strauß einen „Säer neuen Unrats“.

19. Februar 1993

Elke Schmitter, Chefredakteurin der taz, schreibt als Gastkritikerin in der Wochenpost eine Antwort auf Botho Strauß: „Er formuliert die intellektuelle Abdankung einer Generation, die, von der Großen Linken enttäuscht, aufs Große doch nicht verzichten mag (…) Der Dichter macht sich zum Advokaten einer Generation, die ihre Geschichtslosigkeit nicht erträgt.“

22. Februar 1993

Peter Gauweiler nennt den „Anschwellenden Bocksgesang“ im Focus einen „sensationellen Essay“.

25. Februar 1993

„Wird eine neue Rechte salonfähig?“ fragte SPD-Vordenker Peter Glotz in der Wochenpost und warnte: „Freunde, es wird ernst“. Von Strauß gehe eine Gefahr für die Demokratie aus. Glotz: „Wie – zum Teufel – sorgt man dafür, daß die ‘Versprengten’ auch wirklich versprengt bleiben? Daß sie nicht Proselyten machen? Man muß dafür sorgen. Botho Strauß ist ein gefährlicher Wirrkopf.“

26. Februar 1993

Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff springt Botho Strauß in der Zeit („Die Mandarine werden nervös“) zur Seite: „Was hat Botho Strauß denn im Kern gesagt? Doch nur, daß der Mensch mehr ist als die Weltsicht und das Menschenbild der Linken. (…) Und dabei hat er sich sehr vorsichtig ausgedrückt; kein strammer Rechter könnte ihn als Zeugen benennen.“

Der Rheinische Merkur reagiert auf Tilman Spenglers Attacke (siehe 18. Februar): „Zum Anschwärzen und Denunzieren wird es bei den Blödmännern immer reichen, siehe die Kulturseite der Woche.“

5. März 1993

Robin Detje antwortet Kirchhoff in der Zeit unter dem Titel „Achtundsechzigerdämmerung“. Aus der Sicht eines Nachgeborenen sieht er in der Strauß-Kontroverse einen Generationenkonflikt.

8. März 1993

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie stellt sich im österreichischen Magazin Profil an die Seite von Strauß: Die eigentliche Gefahr sei nicht sein Essay, sondern das „Sirenengeheul“ der linksliberalen Kritiker.

Der Spiegel setzt die Debatte mit einem Aufsatz („Tragödie eines Einzelgängers“) des Rechtswissenschaftlers Joachim Vogel fort: Strauß sei ein „Seismograph und Prophet unheilvoller Entwicklungen“, sein Essay „in einer Tonart gefaßt, die eine große geschichtliche Tradition hat und stets an fatalen Wendepunkten der Historie angestimmt wurde und von der wir meinen, sie sei gefährlich und untergrabe den Vorschein einer Gesellschafts- und Kulturordnung, die auf einer aufgeklärten, historisch und sozial bewußten Vernunft beruht – das unvollendete Projekt der Moderne“.

9. März 1993

Michael Maar unterzieht den „Bocksgesang“ in der FAZ einer Sprachkritik („Das Angerichtete. Botho Strauß oder die Unfähigkeit zum Stil“).

29. März 1993

Der Präsident des Goethe-Instituts, Hilmar Hoffmann, schreibt in der Welt über die „Sprachverwirrungen eines Unpolitischen“.

2. April 1933

Andreas Kilb setzt in der Zeit („Anschwellende Geistesfinsternis“) Strauß in einen Kontext mit Oswald Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. In einer „Zwischensphäre des Halbgeistigen, in der der Sound der Worte wichtiger ist als ihr Sinn, stimmen ihre Sätze sich aufeinander ein. Sie verbinden sich zu einer Melodie, die wir lange, jahrzehntelang nicht mehr vernommen haben, in die wir uns aber, wie die Dinge liegen, nun wieder einhören müssen, als Vor- und Nebengeräusch der nahenden Zeit: den Gesang des Untergangs.“

Mai 1993

Armin Mohler nennt in der Zeitschrift Criticón Nr. 137 Botho Strauß den ersten bedeutenden Dichter, „welcher in der ihm eigenen Sprache die Ablösung des erstarrten Linksliberalismus fordert und das Lebensrecht einer deutschen Rechten vertritt“.

21./28. Juni 1993

Im Spiegel erscheinen zwei Wochen hintereinander Großessays von Hans Magnus Enzensberger („Ausblicke auf den Bürgerkrieg“) und Martin Walser („Deutsche Sorgen“), die die Debatte um deutsche Befindlichkeiten weiter anheizen.

2. April 1994

Ignatz Bubis nennt Botho Strauß in einem Interview im Berliner Tagesspiegel einen Vordenker des „intellektuellen Rechtsradikalismus“. Das Verdikt löst erneut ein gewaltiges Echo aus.

18. April 1994

Bubis schwächt sein Urteil ab: In einem Interview mit dem Spiegel sagt er: „Ich zähle ihn auch nicht zu den Wegbereitern des neuen Rechtsradikalismus (…) Aber er gehört zu der intellektuellen Gesellschaft, auf die sich Rechtsradikale in mancher Hinsicht berufen können.“

Nach 14 Monaten bricht Botho Strauß sein Schweigen und äußert sich erstmals selbst. Im Spiegel schreibt er: „Wer den Autor jenes Beitrags ‘Anschwellender Bocksgesang’, den Autor etlicher Theaterstücke und Prosabücher auch nur in entfernte Verbindung zu Antisemitismus und neonazistischen Schandtaten bringt, ist jemand, der keine Differenz mehr erträgt. Folglich ist er entweder ein Idiot oder ein Barbar oder ein politischer Denunziant. Oder eben jemand, der beinahe willenlos öffentliches Gerede durch den eigenen Mund rauschen läßt, ganz so wie es in jenem inkriminierten Artikel als eine der gespenstischen Entwicklungen einer aufgeklärten Gesellschaft benannt wurde.“ 

April bis August 1994

In der FAZ erscheint die Artikelserie „What’s right?“ Eröffnet wird sie von Brigitte Seebacher-Brandt, zu den weiteren Beiträgern gehören unter anderem Karlheinz Weißmann, Panajotis Kondylis, Christian Meier, Konrad Adam, Hans-Ulrich Wehler, Dan Diner, Frank Schirrmacher, Wolfgang Schäuble, Erhard Eppler und Wolf Jobst Siedler.

Herbst 1994

Der Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ erscheint. Untertitel: „Anschwellender Bocksgesang und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte“. Herausgeber sind Heimo Schwilk und Ulrich Schacht. Auf den vorangestellten Strauß-Essay folgen 27 Autoren unterschiedlicher politischer Herkunft. Im Vorwort heißt es dazu, das „weite Feld der Nachdenklichkeit“ mache den Band „zu einer ersten Gesamtbilanz der deutschen Erfahrungen seit 1989“. Der Band löst eine Vielzahl von Besprechungen aus.

22. September 1994

Bernd Ulrich rezensiert in der Wochenpost den Band: „Der ‘Anschwellende Bocksgesang’ war das wirkungsvolle Fanal eines Schriftstellers, Wortmeldung aus der Einsamkeit für die Einsamkeit. Als Plattform einer politischen Strömung eignet er sich nicht.“

17. Oktober 1994

Der Spiegel kritisiert Botho Strauß dafür, daß er sich als Wortführer dieses „Manifests der konservativen Intelligenz“ eingelassen habe, er liefere den „medio­kren Rechts-Denkern noch willkommene Munition“.

20. Oktober 1994

Als einziger Beiträger distanziert sich FAZ-Feuilletonredakteur Eduard Beaucamp von dem Sammelband, die zweite Auflage erscheint ohne seinen Text. Botho Strauß schreibt dazu in einem Brief an Heimo Schwilk: „Distanzen legt man immer zurück. Aber sich zu distanzieren jetzt von einem Buch, dessen Herausgeber, Thema und Autoren man kannte, ist nichts als feige und etwa so lauter wie das Dementi eines Politikers, der ‘aus Versehen’ eine vom Lager abweichende Meinung äußerte.“

Strauß gratuliert Schwilk: „Nun habe ich ‘Die selbstbewußte Nation’ von vorne bis hinten durchgelesen und will Ihnen beiden, den Herausgebern, meinen Respekt zollen: es wurde ja bedeutend mehr veranlaßt und zusammengetragen, als ursprünglich geplant.“ Es gebe stärkere und schwächere Beiträge, „aber nirgend wird man bei unaufgeregter Betrachtung ein ähnlich hetzendes und höhnendes Denunzieren bemerken, wie es aus den marktbeherrschenden Blättern gewöhnlich der anderen Seite, dem häßlichen Rechten entgegenschallt. (…) Der ‘Bocksgesang’ selbst ist ein Zeugnis der Antwortlosigkeit, mit der das negationsgeschulte intellektuelle Deutschland auf die Erschütterung durch das Positive (der Wiedervereinigung) reagierte. Er suchte in diesen leeren Augenblick alles Fragwürdige unseres kulturellen Befindens zu versammeln und auf die Spitze seiner Fragwürdigkeit zu treiben.“