© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Ein Akt der Kulturbarbarei
Politische Korrektheit: Die Entfernung eines Liebesgedichts an einer Berliner Hochschulfassade sorgt weiter für scharfe Kritik
Thorsten Thaler

Der Beschluß des Akademischen Senats der  Alice-Salomon-Hochschule, ein angeblich sexistisches Gedicht an ihrer Fassade zu übermalen, sorgt für empörte Reaktionen. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) bezeichnete die geplante Übermalung als einen „erschreckenden Akt der Kulturbarbarei“. Wer das Grundrecht der Freiheit von Kunst und Kultur durch „vermeintliche“ Political Correctness unterhöhle, betreibe ein „gefährliches Spiel“, erklärte Grütters. Sie sieht in der Entscheidung ein weiteres Beispiel für eine Einschränkung der Kunst. Berlins Kultursenator Klaus Lederer hält sie für „überzogen und absurd“. Der Deutsche Kulturrat, Spitzenorganisation von 250 Kulturverbänden, reagierte „erschüttert“. Geschäftsführer Olaf Zimmermann schrieb auf Twitter, er hätte es „nie für möglich gehalten, daß eine Hochschule, die selbst Nutznießer der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ist, dieses Recht dermaßen mit Füßen tritt“.

Das auf Spanisch verfaßte Liebesgedicht mit dem Titel „avenidas“ stammt von dem bolivianisch-schweizerischen Lyriker Eugen Gomringer und lautet übersetzt: „Alleen/ Alleen und Blumen// Blumen/ Blumen und Frauen// Alleen/ Alleen und Frauen// Alleen und Blumen und Frauen und/ Ein Bewunderer“. Studenten der Alice-Salomon-Hochschule hatten das Gedicht bereits im April 2016 in einem offenen Brief an den Rektor Uwe Bettig kritisiert, weil es aus ihrer Sicht nicht nur eine „klassische patriarchale Kunsttradition“ reproduziere, sondern zudem „unangenehm“ an die alltägliche sexuelle Belästigung von Frauen erinnere. Als die Diskussion dann im vorigen Jahr hochkochte, bezeichnete der Schriftsteller und Ehrenpräsident des deutschen PEN, Christoph Hein, den Vorgang als „barbarischen Schwachsinn“. Die Schriftstellervereinigung zeigte sich „ zutiefst beunruhigt über eine Entwicklung, die darauf abzielt, der Kunst einen Maulkorb vorzuspannen oder sie gar zu verbieten“ (JF 38/17).

Doch die Alice-Salomon-Hochschule entschied vergangene Woche nun, das Werk übermalen zu lassen und „voraussichtlich“ im Herbst dieses Jahres durch Verszeilen der Poetik-Preisträgerin Barbara Köhler zu ersetzen. Künftig soll alle fünf Jahre ein neues Gedicht angebracht werden. Wie die Hochschulleitung mitteilte, soll das Gromringer-Gedicht darunter in Spanisch, Deutsch und Englisch auf einer Tafel angebracht werden, die auch an die Debatte darum erinnern werde. 

Gomringer, der als Begründer der Konkreten Poesie gilt und 2011 ebenfalls den Poetik-Preis der Hochschule gewonnen hatte, kritisierte die Entscheidung. „Das ist ein Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie“, so der 93jährige. Er sei ein „Opfer von Gender-Theorien und von mißverstandener Political Correctness“, sagte Gomringer gegenüber der Bild-Zeitung. „Das ist Zensur!“ Er behalte sich rechtliche Schritte vor.

Eugen Gomringer müsse vor dem Sexismus-Anwurf in Schutz genommen werden, sagte Kultursenator Lederer in der Fragestunde des Berliner Abgeordnetenhauses. Viele Kunstwerke ließen sich unterschiedlich interpretieren. Es könne nicht jedes Werk getilgt werden, weil es ambivalent sei. Der Linken-Politiker sprach sich für eine gesellschaftliche Debatte aus, auch über strukturellen Sexismus.

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