© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Verzerrung des Wählerwillens durch das Wahlrecht
Die Frösche lassen grüßen
Dieter Schneider

Auch 2018 wird wieder ein Wahljahr in Deutschland sein. Schon allein die Landtagswahl in Bayern im Herbst wird vorher die Bundespolitik extrem beeinflussen. Das ist aber mit „Wahljahr 2018“ nicht allein gemeint. „Jamaika“ war im Anlauf gescheitert, die Große Koalition ist indes noch nicht in Sack und Tüten. Wenn sie zustande kommt, ist nicht sicher, wie lange sie hält. Also ist es dringend notwendig, sich mit Neuwahlen schon 2018 oder bald danach zu beschäftigen, um für den Fall des Falles vorbereitet zu sein.

Aber dabei soll an dieser Stelle nicht auch noch spekuliert werden, welche Parteien bei Neuwahlen gewinnen oder verlieren können. Genauso wichtig ist es, von neutraler Warte rechtzeitig darüber nachzudenken, ob dann mit dem bestehenden Wahlgesetz der Bundestag noch größer oder kleiner und die Zusammensetzung mehr oder weniger demokratisch legitimiert sein wird.

Der Gesetzgeber will einen Bundestag mit 598 Abgeordneten, davon genau die Hälfte direkt in 299 Wahlkreisen gewählt, die andere Hälfte durch die Zweitstimmen über die Landeslisten von 16 Bundesländern. Nun haben wir aktuell einen Bundestag mit 709 Abgeordneten. Davon sind 299 direkt gewählt, 410 über Landeslisten. Deshalb ist nicht nur die Größe des Bundestages höchst problematisch, sondern auch seine Zusammensetzung. Denn dadurch haben die vom Wählerwillen vor Ort völlig unabhängigen, aber vom Parteiwillen um so abhängigeren Listen-Abgeordneten eine eindeutige Mehrheit.

Die 410 Listen-Abgeordneten sind wahlrechtlich gesehen ein bunter Haufen: 35 von ihnen sind überhaupt nicht gewählt, sondern profitieren davon, daß fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen für kleinere Parteien nicht – wie meistens behauptet – unter den Tisch gefallen sind, sondern zur Beute der anderen Parteien wurden, die die Fünfprozenthürde übersprungen hatten. Ähnlich haben die staatstragenden Parteien es übrigens auch für die Parteienfinanzierung geregelt. Jede Partei muß durch eigene Einnahmen so viel Geld zusammenbringen, wie ihr aufgrund des jeweiligen Wahlergebnisses an staatlicher Parteienfinanzierung zusteht. Wenn das eine Partei nicht schafft, fallen auch die für sie möglichen Gelder aus der Parteienfinanzierung nicht unter den Tisch, sondern werden den anderen Parteien über den Tisch zugeschoben. Diejenigen, die auf die vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Regelung mit den Ausgleichsmandaten pochen, argumentieren, daß das wegen des gewollt dominierenden Verhältniswahlrechts notwendig sei. Dabei übersehen sie geflissentlich, daß wir bei den Bundestagswahlen wegen der Fünfprozentklausel überhaupt kein reines Verhältniswahlrecht in Deutschland haben.

Weitere 76 Abgeordnete sind auch nicht durch das Zweitstimmenergebnis für ihre Partei in den Bundestag gekommen, sondern durch ausgleichende Zuteilung durch den Bundeswahlleiter. Die Mechanik der Zusatzstimmen-Zuteilung – über die gesetzliche Zahl von 598 hinaus – ist schon bei der Bundestagswahl 2013 und jetzt auch 2017 in der Öffentlichkeit weitgehend im Dunkeln geblieben. Düsternis entsteht in diesem Zusammenhang weniger wegen des fehlenden Lichtes, sondern auch durch die äußerst schwer verständliche Darstellung des Sachverhaltes durch die Bundeswahlleitung. Da auch die meisten Journalisten da nicht durchblicken, machen die Medien einen großen Bogen um das Thema.

Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte die Union 43 Überhangmandate und die SPD drei. So war es häufig zu lesen. Genau das soll die insgesamt 111 Zusatzmandate für alle Parteien ausgelöst haben. CDU und CSU sind aber wahlrechtlich selbständige Parteien. Deshalb ist das Zusammenrechnen der Überhangmandate bei den Unionsparteien in aller Regel falsch. Die 36 Überhangmandate der CDU und die sieben der CSU dürfen nicht zusammengerechnet, sondern müssen verrechnet werden.

Rechnerisch haben beide Parteien damit parallel zueinander zufälligerweise gleichermaßen 111 Zusatzmandate ausgelöst. Eine ungewöhnliche Folge: Beide Parteien bekamen keine Ausgleichsmandate. Die Regel ist aber: Nur eine Partei kann nach der Verrechnung der Überhangmandate die Ausgleichsmandate bei allen anderen Parteien auslösen. Die Bundeswahlleitung hat nun im Internet nur die 36 Überhangmandate der CDU als Rechenbeispiel gewählt und damit suggeriert, daß allein die CDU die 111 Zusatzmandate ausgelöst hat. Genauso hätte sie es für die sieben Überhangmandate der CSU tun können. Das Ergebnis wäre das gleiche gewesen: 111 zusätzliche Mandate.

Bei der nächsten Wahl kann der Bundestag noch größer als der augenblickliche werden, aber auch wesentlich kleiner. Größer wird er, wenn eine der beiden Unionsparteien noch weiter Zweitstimmen verliert, aber die Zahl ihrer gewonnenen Wahlkreise gleich bleibt.

Eine einfache, verständliche Rechnung: Die CDU hatte bei der Bundestagswahl 26,8 Prozent aller mandatsrelevanten Zweitstimmen gewonnen. Darin enthalten ist die bereits erwähnte Beute von den Parteien, die bundesweit unter fünf Prozent geblieben sind. Nach Zweitstimmen stehen der CDU damit 168 Sitze zu (26,8 Prozent von 598). In der Summe bundesweit hat die CDU zusätzlich 36 Überhangmandate gewonnen. Durch drei Überhangmandate der SPD in Hamburg und Bremen hat die CDU theoretisch Anspruch auf vier Ausgleichsmandate. Die sind mit ihren 36 Überhangmandaten zu verrechnen. Verbleiben 32 Zusatzmandate für die CDU. Das summiert sich endgültig zu 200 Mandaten für die CDU.

Die drei Überhangmandate der SPD reichen nicht für ein Ausgleichsmandat für die CSU. Folglich bleibt es bei 46 Mandaten der CSU durch Wahlkreisgewinne und damit sieben Überhangmandaten, weil nach 6,2 Prozent mandatswirksamer Zweitstimmen der CSU nur 39 Sitze zustehen (6,2 Prozent von 598).

Was bedeutet das für eine mögliche erneute Bundestagswahl in naher Zukunft? Bei der nächsten Bundestagswahl kann der Bundestag noch größer als der augenblickliche, aber auch wesentlich kleiner werden. Größer wird er, wenn eine der beiden Unionsparteien noch weiter Zweitstimmen verliert, aber die Zahl ihrer gewonnenen Wahlkreise gleich bleibt.

Die entscheidende Frage für Wahlforscher dabei lautet: Wer produziert mehr Zusatzmandate über die gesetzliche Vorgabe von 598 hinaus? Die CDU oder die CSU?

Wenn die CSU in Bayern 50 Prozent der mandatswirksamen Zweitstimmen gewinnt, können keine Überhangmandate und Ausgleichsmandate entstehen. Erringt die CSU nur 40 Prozent der mandatswirksamen Zweitstimmen, so entstehen – wenn sie trotzdem alle 46 Wahlkreise in Bayern gewinnt – mit neun Überhangmandaten insgesamt 143 Zusatzmandate. Bei nur 36 Prozent Zweitstimmen und Gewinn aller Wahlkreise durch die CSU erhöht sich die Zahl der Zusatzmandate auf über 200. Weniger werden es wieder, wenn die CSU auch Wahlkreise verliert.

Nach Lage der Dinge Ende 2017 dürfte die CSU eher mehr als 40 Prozent der mandatswirksamen Zweitstimmen in Bayern erreichen als weniger. Es hängt sehr viel davon ab, ob bei (eventuellen) Neuwahlen die Merkel-CDU die CSU so herunterziehen kann wie bei der letzten Bundestagswahl. Mit dem Wechsel von Seehofer zu Söder zeitlich noch deutlich vor der Wahl im Herbst in Bayern wird das wahrscheinlich nicht so sein. Danach wird die CSU mit weniger als sieben Überhangmandaten deutlich weniger als die bisherigen 111 Zusatzmandate für alle Parteien produzieren.

Die Bundestagsabgeordneten werden eine Wahlrechtsreform, die eine Begrenzung der Zusatzmandate zum Ziel hat, nicht aufgreifen. Schließlich verdanken 111 Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien ihre Mandate nicht dem Wählerwillen.

Ganz anders bei der CDU: Die CDU hat bei der Bundestagswahl 36 Überhangmandate zugerechnet bekommen, davon elf allein in Baden-Württemberg und sehr viele in den östlichen Bundesländern. In diesen Bundesländern hat die CDU trotz erheblicher Stimmverluste bei Erst- und Zweitstimmen die meisten Wahlkreise trotzdem mehr oder weniger deutlich gewonnen. Wenn die CDU auch bei leichten Zweitstimmenverlusten in Baden-Württemberg und in den neuen Bundesländern die gleiche Anzahl von Wahlkreisen gewinnt, steigt die Zahl der Zusatzmandate noch über die bisherige Zahl von 111 hinaus. Erst kräftige Stimmverluste der CDU dürften auch zu mehr Wahlkreisverlusten führen. Dann würde die Zahl der Zusatzmandate wieder geringer ausfallen.

Fazit: Von keinen Zusatzmandaten über die gesetzliche Zahl von 598 hinaus bis zu 150 Zusatzmandaten, eher von der CDU als von der CSU ausgelöst, ist nach den augenblicklichen Wahlprognosen alles drin.

Höchste Zeit, daß sich das Bundesverfassungsgericht das erneut ansieht und die möglichen Ergebnisse aufgrund verschiedener nicht unrealistischer Prognosen durchrechnen läßt. Die Bundestagsabgeordneten aller Parteien werden eine Wahlrechtsreform, die das Ziel einer Begrenzung der Zusatzmandate zum Ziel hat, nicht aufgreifen. Die Erklärung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, eine Wahlrechtsreform möglichst bald anzustreben, ist nicht ernst zu nehmen. Das hat der vormalige Bundestagspräsident Norbert Lammert schon bei seiner Antrittsrede gleich zu Beginn der Arbeit des letzten Bundestages auch angekündigt, und nichts ist geschehen.

Schließlich verdanken 111 Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien – wie zu Anfang dieses Beitrages beschrieben – mit ihren Mitarbeiterstäben ihre Mandate nicht dem Wählerwillen, sondern dem höchst problematischen bisherigen Wahlrecht. Wie heißt es doch so schön: Frösche sind wegen ihrer „Froschperspektive“ dagegen, daß der Sumpf teilweise trockengelegt wird.

Ein Vorschlag für ein geändertes Wahlrecht: 1. Ähnlich wie bei der Fünfprozentklausel bei den Zweitstimmen sollte eine 33,3-Prozent-Klausel bei den Erststimmen eingeführt werden. Nur der Wahlkreiskandidat einer Partei erhält einen Sitz im Bundestag, der mehr als ein Drittel der Erststimmen in seinem Wahlkreis erreicht hat. Aufgrund der Erst- und Zweitstimmen-Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern bei der letzten Wahl bekäme die CDU anstatt 36 Überhangmandaten nur noch 9 Überhangmandate, was zu etwa 17 bis 18 Ausgleichsmandaten führen würde. Bei der CSU würden vier anstatt sieben Überhangmandate entstehen, was zu etwa 13 Überhangmandaten bei den übrigen Parteien führen würde. Zu den übrigen Parteien gehören dann sowohl CDU, bei der ihre eigenen 9 Überhangmandate verrechnet werden, und die SPD, bei der drei Überhangmandate verrechnet werden.

2. Es sollte zusätzlich darüber nachgedacht werden, daß die Stimmen für die Parteien, die bei den Zweitstimmen unter fünf Prozent bleiben, nicht mehr den anderen Parteien zusätzliche Sitze im Bundestag bringen.

Modellrechnungen mit diesen beiden Vorschlägen und den Ergebnissen der letzten Bundestagswahl kommen dann der Zahl von rund 598 Abgeordneten sehr nahe.

Natürlich müssen Modellrechnungen auch für deutlich andere Wahlergebnisse als die bei der Bundestagswahl 2017 durchgeführt werden. Wegen des Abstiegs der bisherigen Volksparteien Union und SPD haben schon bei der Bundestagswahl 2017 etliche Wahlkreisgewinner mit rund 25 Prozent der Erststimmen ihren Wahlkreis gewonnen. Bei weiteren Wahlen kann diese Marke noch weiter sinken. Das pervertiert den Gedanken des Mehrheitswahlrechts zum Beispiel nach britischem Vorbild. So wie die Fünfprozentklausel bei den Zweitstimmen als notwenige Abweichung vom reinen Verhältniswahlrecht gesehen wird, kann eine 33,3-Prozent-Klausel bei den Erststimmen als notwenige Abweichung vom Mehrheitswahlrecht eingeführt werden.

Der Vorschlag einer 33,3-Prozent-Klausel für die Erststimmen als Lösung des Problems eines überdimensionierten Bundestages wird sicher von den Parteien zunächst nicht zur Kenntnis genommen und dann abgelehnt, wenn weitere Medien diesen überparteilichen Vorschlag aufgreifen. „Das geht nicht“ werden sie im Falle der Ablehnung behaupten. „Das wollen wir nicht“ wäre ehrlicher. Die Frösche lassen grüßen.






Dieter Schneider, Jahrgang 1941, studierte Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt/Main. Nach sieben Jahren Management-Tätigkeit mit Schwerpunkt Marketing und Marktforschung in einem großen Kosmetikunternehmen brachte er als selbständiger Unternehmensberater und Journalist den branchenspezifischen Informations- und Beratungsdienst Marktlücke heraus, den es anzeigen- und PR-frei fast 40 Jahre gab. Aktuell beschäftigt sich Schneider publizistisch vor allem mit Wahlforschung.

Foto: Auszählung: Von den aktuell 709 Abgeordneten des Bundestages sind 299 direkt gewählt und 410 über Landeslisten. Damit sind die vom Wählerwillen völlig unabhängigen Abgeordneten deutlich in der Überzahl