© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Ein Revisionist im besten Sinne
Europa als nationale Zweckmäßigkeit: Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann und seine Politik
Gregor Maurer

Das Deutsche Reich war Anfang der zwanziger Jahre infolge des Versailler Diktates in seinen außenpolitischen Spielräumen mehr als eingeengt. Isoliert, von feindlich gesinnten Mächten wie Belgien, Frankreich und Polen eingekreist, stellte so seine geopolitisch höchst problematische Mittellage einen neuralgischen Punkt dar. Einen ersten Vorstoß, diese Umklammerung zu durchbrechen, stellte der Vertrag von Rapallo dar. Am 16. April 1922 schloß das Deutsche Reich unter Reichskanzler Joseph Wirth und Außenminister Walther Rathenau mit Sowjetrußland am Rande einer in Genua stattfindenden internationalen Wirtschaftskonferenz dieses Abkommen, das für die Alliierten völlig überraschend kam und bei ihnen die Furcht vor einer allgemeinen Erschütterung der Versailler Nachkriegsordnung auslöste; insbesondere die Existenz Polens schien ihnen gefährdet. 

Entgegen ihren Befürchtungen begründete der Vertrag jedoch kein gegen die Westmächte und Polen gerichtetes deutsch-russisches Bündnis. Er bot der deutschen Seite in erster Linie die Möglichkeit, die Beziehungen zu Moskau zu verbessern und somit die internationale Isolierung beider Länder zu überwinden. Deutschland nahm also seine 1918 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland wieder auf, und auf der anderen Seite beendete der Rapallo-Vertrag die diplomatische Isolation des revolutionären Rußlands. 

Damit bannte er auch die Gefahr einer deutschen Beteiligung an einem internationalen antisowjetischen Konsortium. Weiterhin verzichteten beide Seiten gegenseitig auf Erstattung ihrer Kriegskosten und -schäden. So sollte ein sowjetisch-französisch-englisches Bündnis verhindert und Sowjetrußland als ein potentieller Bündnispartner der Deutschen im Kampf um die Revision des Versailler Diktats bewahrt werden.

Handlungsspielraum für das Deutsche Reich gewinnen

Eine neue Phase deutscher Außenpolitik begann mit der Übernahme des Auswärtigen Amts durch den Vorsitzenden der national- und wirtschaftsliberalen Deutschen Volkspartei, Gustav Stresemann, der am 13. August 1923 Reichskanzler (bis November 1923) und Außenminister wurde. In seiner bis zu seinem Tod im Oktober 1929 dauernden Amtszeit gelang es ihm, Deutschland wieder in das internationale Staatensystem zu integrieren. 

Von Beginn seiner Amtszeit an schlug Stresemann einen zielstrebigen Kurs ein. Ihm gelang es, eine gewisse Kontinuität in die deutsche Außenpolitik zu bringen, aber auch er konnte sich nicht den Zwängen des Versailler Diktats entziehen. Hier stellten die exorbitant hohen und Deutschland hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Entwicklung extrem belastenden Reparationszahlungen an die Alliierten einen zentralen Punkt seiner Revisionspolitik dar. Eine erste Entlastung auf diesem Feld konnte Stresemann durch den Abschluß des Dawes-Plans vom 9. April 1924, der die Stundung der Kriegsschulden und Anleihen in Höhe von 800 Millionen Goldmark vorsah. 

Er war somit ein wichtiger Schritt für das Deutsche Reich, die Reparationszahlungen auf ein realistisches Niveau zu senken, die nun an die tatsächlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten angepaßt werden sollten. 1924 sollte eine Milliarde Mark als Reparation gezahlt werden, diese Summe sollte bis 1928 auf 2,5 Milliarden Mark pro Jahr steigen. Allerdings führte der Dawes-Plan auch zu einer Souveränitätseinschränkung Deutschlands, da Reichsbank und Reichsbahn unter internationale Kontrolle gestellt wurden. Dennoch bildete der Dawes-Plan die Grundlage für eine weitere Annäherung Deutschlands an die Entente-Mächte und eine damit verbundene Entspannung. Allerdings wurde erst mit dem Young-Plan, an dessen Vorbereitung Stresemann ebenfalls beteiligt war, eine – für damalige Verhältnisse – praktikable Neuregelung der deutschen Reparationszahlungen und die Voraussetzung für die Rheinlandräumung 1930 geschaffen.

Die Konferenz von Locarno im Oktober 1925 sollte dann einen Meilenstein für ein westeuropäisches Friedens- und Sicherheitssystem sowie für die deutsch-französische Entspannungspolitik bedeuten. Bei ihr ging es vor allem um die europäische Sicherheitspolitik und die Anerkennung der deutschen Westgrenzen. Zwar verzichtete das Deutsche Reich damit endgültig auf Elsaß-Lothringen und auch das unter mehr als fragwürdigen Umständen an Belgien abgetretene und fast rein deutsch besiedelte Eupen-Malmedy, gleichzeitig wurde so aber auch einer möglichen aggressiven französischen Rheinpolitik der Riegel vorgeschoben. Eine Wiederholung einer Ruhrgebietsbesetzung wie im Jahr 1923 war damit ausgeschlossen und brachte somit Deutschland ein erhebliches Maß an Sicherheit. 

Im Zuge der Locarno-Verträge hatte Stresemann großen Anteil daran, daß die außenpolitische Isolierung Deutschlands beendet wurde. Weitere Schritte waren 1926 die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund mit ständigem Ratssitz sowie die Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Paktes zur Ächtung des Krieges. Im Zuge der Verständigungspolitik hatte Stresemann noch weitere Erfolge aufzuweisen. 

1926 kam es zu einem Abkommen mit Frankreich und Belgien, das Deutschland zumindest wieder die zivile Luftfahrt erlaubte, im gleichen Jahr wurde eine internationale Rohstahlgemeinschaft zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg vereinbart, und 1927 trat ein Handelsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich in Kraft, nachdem die Aufhebung der alliierten Militärkontrolle in Deutschland schon am 31. Januar erfolgte – allesamt Maßnahmen, die einer liberalen Wirtschaftspolitik nur dienlich sein konnten. Für seine Entspannungspolitik erhielt Stresemann als ein für die damalige Zeit nicht nur nationale Interessen, sondern auch europäische Belange und Zusammenhänge berücksichtigender Politiker 1926 gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand den Friedensnobelpreis.

Kein Interesse an einem „Ost-Locarno“ mit Polen

Dennoch war Stresemann auch weiterhin an einem einvernehmlichen Verhältnis mit der UdSSR gelegen. Mit dem 1926 abgeschlossenen deutsch-russischen Freundschaftsvertrag, dem Berliner Vertrag, wurde nicht nur der Vertrag von Rapallo erneuert, sondern sollte auch unterstrichen werden, daß die Locarno-Verträge keinen Einfluß auf die Beziehungen zur Sowjetunion haben würden. Der auf fünf Jahre angelegte Vertrag beinhaltete neben handelspolitischen Vereinbarungen eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee. Das Deutsche Reich sicherte zudem seine Neutralität für den Fall eines Krieges zwischen der Sowjetunion und einer dritten Macht zu. Bei einem polnisch-sowjetischen Krieg wäre eine Unterstützung Polens durch Frankreich über Deutschland somit unmöglich geworden. Das bestehende polnisch-französische Bündnis erfuhr dadurch eine erhebliche Einschränkung.

Die Beziehungen Deutschlands zu Polen waren in der Zwischenkriegszeit angespannt. Hier spielte insbesondere die rechtliche Stellung der über eine Million Volksdeutsche umfassenden Minderheit und deren Behandlung die zentrale Rolle. Eine oft planmäßige „Entdeutschung“ der ehemaligen preußischen Provinzen Westpreußen und Posen sowie die polnische Aggressionspolitik in Oberschlesien bis 1921 konnte kein deutscher Politiker, egal welcher politischen Couleur, ignorieren. 

Von daher weigerte sich auch Stresemann beharrlich, beispielsweise in Form eines „Ost-Locarnos“ die deutsche Ostgrenze anzuerkennen. Hier wollte und mußte er sich Spielräume für eine – auch völkerrechtlich gestützte – Revisionspolitik bewahren. Zumal Polen seinerseits versuchte, die Position Danzigs auszuhöhlen. Als der polnische Außenminister August Zaleski im Dezember 1928 eine drohende Rede gegen die deutsche Minderheit hielt, erntete er nicht nur eine scharfe Erwiderung Stresemanns. Er nutzte die Gelegenheit, gegen die Forderungen anzugehen, Minderheiten sollten sich in Europa an das jeweilige Staatsvolk anpassen. Damit vertrat er als vaterländischer Patriot besonders die Interessen der vielen Deutschen außerhalb des Reiches. 

Stresemann vermied es geschickt, sich einseitig in die Abhängigkeit eines oder mehrerer Länder zu begeben. Vielmehr durchbrach Deutschland unter seiner Ägide ganz erheblich seine außenpolitische Isolierung, trat wieder in den Kreis der führenden europäischen Mächte ein und besaß so gute Chancen auf eine erneute Stellung als Großmacht. Gleichzeitig entspannte sich durch seine Politik das Verhältnis zum ehemaligen „Erbfeind“ Frankreich. Diese sicherheitspolitische Stabilisierung Europas trug damit wesentlich zum nationalen Interesse bei, Deutschlands Geißel von Versailles abzustreifen.