© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Entscheidend ist, was hinten rauskommt
Große Koalition: Am Schluß ziehen sich die Verhandlungen, „bis es quietscht“
Jörg Kürschner

Das schwierige Finale der Koalitionsverhandlungen hatte zu Wochenbeginn sogar den Zeitplan der AfD-Bundestagsfraktion durcheinandergebracht. „EILT – AfD-Pressestatement wird verschoben“, hieß es am Dienstag vormittag, 135 Tage nach der Bundestagswahl, in einer Mitteilung der Pressestelle. Eigentlich hatten die 91 Koalitions-Unterhändler von Union und SPD bereits am Sonntag fertig sein wollen, doch es hakte insbesondere in der Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik. 

Und so wurde bis zur Wochenmitte weiterverhandelt, „bis es quietscht“, wie SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles angekündigt hatte. Ihre Partei sieht in der Zunahme sachgrundlos befristeter Zeitarbeitsverträge eine Ursache für die niedrige Geburtenrate, hatte bis zum Schluß argumentiert, mit einer weitgehenden Abschaffung jeglicher Befristungen unterstütze man junge Menschen in der „Phase der Familiengründung“. Unionspolitiker verteidigten hingegen flexible Arbeitsmarktregeln unter Hinweis auf 850.000 Langzeitarbeitslose und Hunderttausende Flüchtlinge. Zentraler Streitpunkt war in der Schlußphase auch die „Zwei-Klassen-Medizin“, also die von der SPD geforderte Angleichung der Arzthonorare bei Privat- und Kassenpatienten. 

Geeinigt hatten sich CDU, CSU und SPD in wichtigen Fragen mit direkter Auswirkung auf den Geldbeutel der Bürger. So sollen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und -nehmern finanziert werden. Bei 3.200 Euro Durchschnittseinkommen ergäbe sich eine Bruttoentlastung von 16 Euro. Mütter, die vor 1992 drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht haben, sollen künftig auch das dritte Jahr Erziehungszeit in der Rente angerechnet bekommen. Der Arbeitslosenbeitrag soll um 0,3 Prozent gesenkt, das Kindergeld in zwei Schritten um 25 Euro pro Kind und Monat erhöht werden. 

Klagen in Karlsruhe gegen SPD-Mitgliederbefragung

Einig waren sich die Unterhändler auch in der Einführung eines Baukindergeldes von 1.200 Euro je Kind und pro Jahr und einer Verschärfung der Mietpreisbremse in Ballungsgebieten. Der Bund soll zwei Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau stecken. Eine Steuererhöhung kommt nicht. Eigentlich wollten CDU/CSU die Steuerzahler um 15 Milliarden Euro jährlich entlasten. Dafür soll der Solidaritätszuschlag schrittweise fallen. Wie bereits im Sondierungspapier vereinbart, sollen jährlich nicht mehr als 180.000 bis 220.000 Flüchtlinge einwandern. Der Familiennachzug bei Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutz soll ab August wieder erlaubt, aber auf 1.000 Personen monatlich plus weniger Härtefälle beschränkt werden. Mit der Aufstockung der Sicherheitsbehörden um 15.000 Stellen hofft man der wachsenden Kriminalität Herr zu werden.  

Die Schlußphase der Verhandlungen war geprägt von mannigfaltigen Unsicherheiten der Unterhändler. Das letzte, entscheidende Wort über den Koalitionsvertrag sprechen die rund 450.000 SPD-Mitglieder, deren Befragung mehrere Wochen dauern kann. Dabei spielt auch eine Rolle, ob Parteichef Martin Schulz entgegen früheren Ankündigungen Mitglied des Kabinetts von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) werden kann. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind mehrere Klagen gegen dieses Verfahren anhängig. Es marginalisiere die Befugnisse des Parlaments, das allein zuständig ist für die Kanzlerwahl, wird argumentiert. Man könne der SPD nicht die Form der internen Willensbildung diktieren, heißt es im Willy-Brandt-Haus. Bereits 2013 seien entsprechende Anträge von den Richtern verworfen worden. In der SPD-Parteizentrale hat man mit Sorge registriert, daß der Rückhalt für die Große Koalition schwindet. 

Nach dem aktuellen Insa-Meinungstrend verlieren CDU/CSU drei Prozentpunkte und kommen nur noch auf 30,5 Prozent. Die SPD büßt nochmals einen halben Punkt ein und erhält 17 Prozent. Die AfD liegt mit 15 Prozent nicht weit dahinter. Die deutlichen Verluste der Union erklärte Insa-Chef Hermann Binkert auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT mit der erstmaligen Wahl von zwei Realpolitikern als Parteivorsitzende der Grünen. Annalena Baerbock und Robert Habeck seien offenbar für grün orientierte CDU-Wähler eine Alternative. Zu den Werten von SPD und AfD merkte Binkert an, diese bewegten sich inzwischen unterhalb der statistischen Fehlertoleranz von plus/minus rund 1,5 Prozentpunkten bei diesen Ergebnissen.