© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

In der Not mit jedem Freier
Kuba: Die Ära der Castros endet, am Sozialismus wird jedoch erst einmal festgehalten
Paul Leonhard

Als der Hurrikan „Irma“ im vergangenen Jahr mit zerstörerischer Kraft über Kuba tobte, ließ er Santiago de Cuba aus. Er wollte nicht, so sagen böse Zungen, von der Asche Fidel Castros kontaminiert werden. Die liegt hinter einer Bronzeplatte in einem mächtigen Monolithen gleich neben dem Denkmal für den kubanischen Nationaldichter José Marti auf dem Friedhof Santa Ifigenia. Und vor beiden wird man künftig einen schmächtigen Mann trauern sehen: Raúl Castro.

Die permanente Revolution auf Kuba geht ihrem Ende entgegen. Am 19. April endet mit der aktuell um zwei Monate verlängerten Legislatur des Parlaments auch das Mandat Castros. Daß er über 2018 hinaus nicht zur Verfügung stehe, hatte er bereits 2008 angekündigt, als er in Nachfolge seines Bruders zum Präsidenten gekürt wurde. Andererseits will der gewiefte Stratege auch in seinem 87. Lebensjahr die Macht nicht ganz aus den Händen geben. Deswegen bleibt er bis vorerst 2021 Vorsitzender der herrschenden kommunistischen Partei.

Voraussichtlicher Nachfolger Castros im Präsidentenamt wird Vizepräsident Miguel Díaz-Canel werden. Der 57jährige ist seit 2003 Mitglied des Politbüros und wird dem Reformflügel der KP zugerechnet. Von ihm wird erwartet, daß er die von Castro angestoßenen Reformen fortführt. Trotzdem geht mit dem Abtritt Raúl Castros eine Ära zu Ende, die sechs Jahrzehnte lang den kubanischen Alltag prägte. Der neue Präsident kann nicht mehr vom Nimbus eines Guerrillakämpfers zehren, und er tritt ein schweres Erbe an.

US-Straßenkreuzer als Sinnbild für den Stillstand  

Das Land liegt darnieder. Die Reformen kommen nicht so voran, wie es sich Castro vorstellte. Das Bruttoinlandsprodukt – das in Kuba etwas anders als im Rest der Welt berechnet wird – ist nach Angaben der Regierung 2017 zwar um 1,6 Prozent gestiegen, das sei „aber ein Ergebnis, das uns nicht zufriedenstellt“, so Castro.

Die Hoffnung, daß sich die Beziehungen zu den USA verbessern und diese ihre Wirtschaftsblockade beenden, erwies sich als trügerisch. Präsident Donald Trump ist auf den Konfrontationskurs der Vor-Obama-Zeit zurückgekehrt. „Unser Land ist absolut nicht verantwortlich für diesen Rückschritt, der von der Verschärfung der Blockade, der Rückkehr zur aggressiven und respektlosen Rhetorik und der willkürlichen Anwendung ungerechtfertigter Maßnahmen gekennzeichnet ist“, so ein sichtlich enttäuschter Castro Ende Dezember.

Daß noch immer historische amerikanische Straßenkreuzer und Lastwagen das Straßenbild der Insel bestimmen, mag zwar die Touristen erfreuen, ist aber ein Sinnbild des Stillstandes. Als die Fahrzeuge vor 60 Jahren ins Land kamen, waren sie das modernste, was die Automobilbauer in den USA ihren Kunden anzubieten hatten. Heute sind sie mit ihren russischen, chinesischen oder koreanischen Motoren und Getrieben das Sinnbild einer vom Wohlwollen anderer Länder abhängigen Volkswirtschaft. Aus dem Traum vom freien Leben unter Palmen ist die bleierne Zeit einer Staatsbürokratie geworden, die das Land und seine Menschen erdrückt.

Selbst Raúl Castro ist mit seinen ambitionierten Plänen eines vorsichtigen wirtschaftlichen Umbaus am permanenten Bummelstreik der Verwaltung gescheitert. Die Reform gehe mit „kleinen Schritten“ voran, sagt Marino Murillo, Chef der Kommission für die Umsetzung der „Leitlinien zur Aktualisierung des Wirtschaftsmodells“.

Deutschland verzichtet auf Einflußnahme  

Dazu zählt die Währungsreform, also die Zusammenführung von nationalem (CUP) und konvertiblen Peso (CUC). 200 Experten zerbrechen sich angeblich an ihr die Köpfe. Ohne Währungsreform sei es aber „schwierig voranzuschreiten“, weiß Castro. Das Wohnungsbauprogramm? Trotz aller Anstrengungen schreitet der Verfall voran. Das Defizit ist um 200.000 auf mehr als 800.000 Wohneinheiten angewachsen. Die Landwirtschaft? Gab es bei Gemüse, Tabak, Bohnen und anderen Lebensmitteln Zuwächse, stehen diesen Einbrüche bei Eiern und Milch gegenüber. In diesem Jahr soll eine Steuer auf brachliegende Flächen eingeführt werden, damit mehr Land produktiv genutzt wird.

Nicht einmal mit der für 2017 geplanten Staatsverschuldung hat es geklappt. Das Haushaltsdefizit fiel mit 1,6 Milliarden deutlich geringer aus, weil wichtige Investitionen aufgrund „anhaltender Devisenknappheit“ nicht getätigt werden konnten.

Das Bruderland Venezuela, mit dem die Castros ihre Insel am liebsten vereint hätten, steuert nach dem Tod des charismatischen Comandante Hugo Chavéz in ein wirtschaftliches Chaos. Zum Glück ist Brasilien mit einem Staatskredit in die Bresche gesprungen. Die Chinesen, von den Inselsozialisten als Brüder im Geiste verkannt, haben sich als knallharte Kapitalisten erwiesen, die zwar preisgünstig Lokomotiven, Lastwagen und Elektrogeräte lieferten, aber anschließend enorme Summen für Ersatzteile verlangen.  Kubas Einkäufer hatten diesen Passus in den Verträgen schlichtweg übersehen.

Aktuell droht Kuba erneut die Versuchung, sich vom russischen Bruder umarmen zu lassen. Der ist interessiert, im Hinterhof der USA wieder Militärbasen zu errichten, nachdem die Yankees ihm in Osteuropa immer dichter auf den Pelz rücken. Und Kuba gleicht einem armen Mädchen, das sich in seiner Not mit jedem zahlenden Freier abgibt. Deutschland wiederum, das auf der Insel eine Lobby aus Tausenden ehemaligen DDR-Vertragsarbeitern mit guten Sprach- und Kulturkenntnissen hätte, bleibt bei seiner Blockadehaltung, statt sich kulturell und wirtschaftlich mit seinen Erfahrungen aus der Integration der DDR einzubringen.

Die Suche der kleinen Insel und ihrer politischen Elite nach gangbaren Wegen in eine Zukunft ist auch deswegen schwierig, weil der Sozialismus als Traum einer besseren Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann, Verfassungsrang besitzt. Allerdings einer, der immer mehr an die Grenzen der Realität stößt. Das kubanische System ist darauf ausgelegt, daß die Mittel zur Befriedigung der meisten Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen, Strom, Wasser, Gas, Gesundheit und Bildung durch den Staat kostenlos oder zu symbolischen Preisen zur Verfügung gestellt werden. In diesem Verständnis gilt das erarbeitete Geld nur dazu, Luxusbedürfnisse bezahlen zu können. 

Der Staat erzielt sein Vermögen nicht durch Besteuerung, sondern erwirtschaftet es direkt durch staatliche Betriebe, um es dann in andere Sektoren zu investieren. Das deutlichste Beispiel dafür ist die kubanische Armee, die ihren Finanzbedarf aus jenen Teilen der Tourismusbranche deckt, die die Militärs mit ausländischen Partnern betreiben.

Seit Jahren sind aber die Finanzetats für die Bereiche Gesundheit, Bildung und Kultur eingefroren. Das Fehlen von Medikamenten sorgte unlängst unter den Kubanern für so großen Unmut, daß sich das Parlament mit den Ursachen beschäftigen mußte. Auch hier waren es fehlende Devisen, die den Einkauf der für die Produktion von Medikamenten benötigten Rohstoffe verhindert hatten.

Die pragmatischen Maßnahmen wie Dollarlegalisierung und Marktdualismus, Ausweitung von selbstständiger Arbeit (Cuentapropismo) und Lohnarbeit würden wie deren gleichheitsorientierte Einhegungen wie Besteuerung und Mindestlohn nicht in das System passen: eine systematische Inkonsequenz, die innerhalb der idealen Systemlogik kubanischer gleichheitsorienter Politik nicht überwunden werden kann, schreibt Larissa Borkowski in ihrer 2017 veröffentlichten Dissertation „Castros Erbe – Zur Praxis gleichheitsorientierter Politik im kubanischen Sozialismus“ (Nomos-Verlag): „Dem Eindruck nach ist das kubanische Recht einerseits abgeneigt, überhaupt Rechtsverhältnisse mit Ungleichheitstendenz (wie hier Vermietung von Wohneigentum) zuzulassen. Andererseits bemüht es sich, so sie dann doch zugelassen werden, mögliche Gewinne abzuschöpfen und zu sozialisieren.“

Ob man unter den Bedingungen der Wirtschaftsblockade und ohne großen Bruder eine soziale Marktwirtschaft etablieren kann, ohne daß es zu sozialen Spannungen und Brüchen kommt, wird in Kuba praktisch in kleinen Schritten ausprobiert. Die Labormäuse sind dabei jene Selbstständigen, die mit viel Enthusiasmus und Schlitzohrigkeit Restaurants und Pensionen betreiben oder Taxi fahren. Mißtrauisch sieht der Staat diesem Treiben zu, um sofort mit neuen Gesetzen und Steuern aufzuwarten, wenn er argwöhnt, daß der erwirtschaftete Gewinn zu groß sein könnte.

Förderung des Mittelstandes unabdingbar 

Einen Ausweg aus dem Dilemma hat bisher noch kein westlicher Ökonom den Kubanern aufzeigen können. Varianten, die aus der Misere führen könnten, werden in der Sonderwirtschaftszone Mariel nahe Havanna durchgespielt: „Wertschöpfungskette“ heißt das Zauberwort. Wenn dank einer modernen Lebensmittelindustrie künftig keine Devisen mehr für den Import von Lebensmitteln für die Touristen ausgegeben werden müssen, könnte das Eingesparte in die Landwirtschaft investiert werden. Dort haben Kooperativen – auch mit Unterstützung der Deutschen Welthungerhilfe – bewiesen, daß mehrere Ernten im Jahr möglich sind. Parallel dazu müßte der produzierende Mittelstand staatlich gefördert werden, damit sich wieder eine Handwerkerschaft herausbildet.

Aktuell doktert der Staat an der Reorganisation des Privatsektors herum, wozu auch der Aufbau eines Großhandelsnetzes gehört. Bisher kaufen Kooperativen und Selbständige im Einzelhandel ein, mit dem Ergebnis, daß Waren knapp werden und die Bevölkerung das Nachsehen hat.