© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

„Alarm aller bangen Seelen“
Visionen von wilden Künstlern: Die dämonische Seite des Expressionismus zeigt eine Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld
Sebastian Hennig

Mit dem hundertsten Jahrestag des Weltkrieges häuften sich noch einmal die Erinnerungen an die zeitgleiche Kunstform des Expressionismus. Der Zusammenhang zwischen der Feier der Barbarei und deren nachfolgender Wirklichkeit hat den Pionieren dieser Richtung einiges von ihrem Nimbus genommen. Denn der Krieg war dann doch weit totaler, als sie ihn sich überhaupt vorstellen konnten in ihren Visionen vom wilden Mann.

Die Ausstellung „Der böse Expressionismus – Trauma und Tabu“ in der Kunsthalle Bielefeld will nun noch einmal das Verruchte am Expressionismus herausstreichen. Eine einmal erfolgte Überraschung kann nicht ständig erneuert werden. Gerade bei der Wahrnehmung von Kunst wird das vormals Verblüffende rasch zur Konvention. Eine Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten bedeutet ja gerade, daß diese Mittel nun durchgesetzt sind und darum bald nicht mehr als etwas Neues empfunden werden. Oft wird dann das alte wieder zum neuen Neuen, so wie Heranwachsende sich gern bei den Großeltern Zuspruch in ihrem Gegensatz zu den Eltern holen. Genau besehen war also auch das Neue einmal ein vergessenes Altes, das nur verblüffte, weil seine Wirkungskraft lange nicht mehr erprobt wurde.

Mit den Nazarenern der Romantik verbindet den Expressionismus der Rückgriff auf eine gute Vorzeit, hier der Kulttanz des Urmenschen und dort die Herzenergießungen der kunstliebenden Klosterbrüder. Beiden Kunstrichtungen eignet darin gleichermaßen etwas Erzwungenes. Wenn die Erneuerungen eruptiv hervorbrechen, ebnen sie sich besonders schnell wieder ein. Denn je wilder die Orgie tobte, um so niedergeschlagener sieht das neue Tageslicht ihre Teilnehmer. Der Preis ist die Langeweile. Anspielungen auf sexuelle Freizügigkeit und Eingeborenen-Habitus sind längst in nahezu jedem Werbefilm zu finden. Es ist kaum möglich, durch eine Stadt zu spazieren, ohne von solchen Signalen erreicht zu werden.

Damit sich die formale Langeweile und entwicklungsgeschichtliche Perspektivlosigkeit des deutschen Expressionismus nach dem Weltkrieg nicht zu sehr durch die gegenwärtige omnipräsente Hängung in den Sammlungen mitteilt, muß ab und an eine thematische Ausstellung das fade Mahl wieder schmackhaft machen. 

Die wiedererkennbare Signatur ist geblieben

Gewiß hätten es sich die Künstler vor hundert Jahren nicht träumen lassen, daß ihre schrille Störung einmal zum Hintergrundrauschen wird. Am ehesten haben jene Künstler des Expressionismus gewußt, was sie taten, die zwanzig Jahre älter waren als die in den Achtzigern geborenen Hauptprotagonisten wie Marc, Kirchner und Kokoschka. Beispielsweise der Dramatiker Hermann Bahr spielt 1914 den Ball zurück, indem er den gegenwärtigen Zustand als unmenschlich beschreibt: „Die Leute wissen gar nicht, wie recht sie haben, wenn sie zu spotten meinen, daß diese Bilder ‘wie von Wilden’ gemalt sind. Die bürgerliche Herrschaft hat aus uns Wilde gemacht. (…) Zeichen des Alarms aller bangen Seelen gibt der Expressionismus.“

Die Bewegung von damals bleibt ein zeitgeschichtliches Phänomen. Daneben können sich die Lebenswerke einzelner großer Künstler behaupten, die nur durch eine Phase des Expressionismus hindurchgingen. Diese hatten meist zuvor schon andere Bildfindungsstrategien erprobt und wandelten sich weiter. In der Ausstellung zählen dazu Christian Rohlfs, Emil Nolde, Käthe Kollwitz und Erich Heckel, während der Reiz der Maler wie Conrad Felixmüller, Ernst Ludwig Kirchner, Ludwig Meidner, Karl Schmidt-Rottluff und Walter Jacob nahezu rückstandsfrei mit dem expressionistischen Fluidum verdampfte.

Denn was heute vom Expressionismus als Bewegung geblieben ist, das ist sozusagen der Markenkern, die wieder-erkennbare Signatur. Längst haben es die bunten Bilder auf die Briefmarken und Kaffeebecher geschafft. Sie wirken im Katalog und auf dem Plakat. Vom Geheimnis einer Madonna von Raffael ergriffen zu werden, bedarf es keiner Information. Dagegen ist die Kenntnis ihrer Kunstrebellion bei den an sich äußerst läppischen Pinseleien von Kirchner und Tappert unbedingt erforderlich. So entsteht die paradoxe Verschiebung, daß die einstigen Gegenstände der Andacht heute noch eine lebendige sinnliche Erfahrung für jeden sind, der Augen hat, während die Ergebnisse jenes „Bedürfnisses, sich der Masse mitzuteilen“ (Oskar Kokoschka), ohne ein Wissen um die Umstände ihrer Entstehung niemanden mehr direkt ansprechen würden. Sie wirken als Fetische, indem es nicht um sie geht, sondern um das, was sie bedeuten. Die Altartafeln der Renaissance sind zur schönen Kunst geworden. Die Bilder des Expressionismus zu Andachtsbildern einer Vergottung der Moderne.

Zurückweisung durch den NS-Kulturbetrieb

Daneben gibt es tatsächlich Gemälde, in denen in unterschiedlicher Intensität der Durchbruch zum Elementaren gelungen ist. Noch etwas matt bei August Mackes „Nacktem Mädchen mit roter Blume“ (1911), schon stärker bei George Grosz „Der Liebeskranke“(1916) und Emil Noldes „Männerköpfe“ (1912). Von geradezu unheimlicher Dichte sind dann Christian Rohlfs „Vier Köpfe“ (1917/18). Dieser Maler war damals schon knapp sechzig Jahre alt, und seine Bilder sind am wenigsten gealtert mit der Zeit. 

Die klassische Moderne, insbesondere des deutschen Expressionismus, wurde infolge ihrer Zurückweisung durch den nationalsozialistischen Kulturbetrieb zur geheiligten Bundeslade der neueren Kunstgeschichte. Sie wurde mit der Aktion gegen die „Entartete Kunst“ in Drachenblut gebadet und ist seither absolut hieb- und stichfest gegen jede ästhetische Kritik.

Außer acht gelassen wird dabei, daß diese Moderne spätestens gegen Ende der zwanziger Jahre nahezu überall in Europa an sich selbst irre wurde und bereits in einen Neoklassizismus eingemündet war. Die autoritären Regime hatten es nicht nötig, diesen als Verdikt zu verhängen. Zudem war auch in Deutschland lange Zeit gar nicht entschieden, ob nicht gar die Barlach, Kollwitz und Nolde als staatspolitisch wertvoller Ausdruck einer spezifisch deutschen Kunsterneuerung anzusehen seien. Einige Künstler waren im Sommer 1937 zeitgleich in der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ im Haus der Kunst und als „Entartete Kunst“ in den Hofgarten-Arkaden vertreten. Noch in den vierziger Jahren wurden Werke von als entartet angeprangerten Malern auf Tausenden von Kunstschauen der NSG „Kraft durch Freude“ in den Betrieben des Deutschen Reiches ausgestellt.

Doch die manichäische Legende von den Guten und den Bösen wird uns wohl noch eine Weile begleiten, wenn auch in Bielefeld der Expressionismus nun gerade darum gutgeheißen wird, weil er sich böse, dämonisch und grimmig gebärdete.

Die Ausstellung „Der böse Expressionismus. Trauma und Tabu“ bis zum 11. März 2018 in der Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5, täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr, Mi. bis 21 Uhr, zu sehen.

Der Katalog (Wienand Verlag) mit 256 Seiten und 262 Abbildungen kostet im Museum 38,90 Euro.

 www.kunsthalle-bielefeld.de