© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Die Bezugspunkte nicht verlieren
Personale Würde und Freiheit: Warum Europa sein kulturelles Erbe verteidigen muß
Michael Wagner

Der 2004 verstorbene Literaturwissenschaftler Dietrich Schwanitz schreibt in seinem Buch „Bildung. Alles, was man wissen muß“ über die Kernbestände europäischer Kultur. Dabei nimmt er zu Beginn des Buches Bezug auf den 1922 veröffentlichten Roman „Ulysses“ des irischen Schriftstellers James Augustine Joyce. Joyce schildert die Irrwege des Juden Leopold Bloom während des 16. Juni 1904 in Dublin. Die Episoden in dem Roman folgen dem Muster der Odyssee von Homer.

Damit erinnert Joyce daran, daß Europa vor allem von zwei kulturellen Flüssen bewässert wurde: die Quelle des einen Flusses liegt in Israel, die Quelle des anderen in Griechenland. Es waren die Texte der Bibel, die griechische Philosophie und die Epen Homers, die unsere europäische Kultur maßgeblich beeinflußt haben. Ergänzend hinzu kam das römische Recht. 

Diese Prägungen ließen es zu, daß die Epoche der Aufklärung und die subjektive Wende des Denkens unter Immanuel Kant („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“) in Europa möglich waren. Der spezifische Verlauf europäischer Geschichte führte schließlich zu einem grundlegenden Ergebnis, das in anderen Kulturräumen wie Indien, China oder den islamischen Ländern in dieser Form nicht existiert: der Mittelpunktstellung und Würde der einzelnen Person und der damit verbundenen Priorität subjektiven, kritischen Denkens. Die daraus resultierende ethische und politische Autonomie des Individuums ist das zentrale Spezifikum abendländischer Kulturgeschichte.

Im Islam hat sich das Individuum unterzuordnen

Trotz der Übernahme europäischer Ideen aufgrund der jahrhundertelangen Dominanz Europas zeigen jüngste Entwicklungen, daß diese Vorstellungen in Europa gefährdet sind. Dies liegt vor allem an der Zunahme von Menschen aus nichteuropäischen und muslimischen Kulturräumen. Diese demographische Veränderung ist nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern zu beobachten und hat vor allem zwei Folgen: Zum einen erleben Europäer ihre gewohnten Kulturräume als schwindend. Zum anderen kommt es zu Konflikten der unterschiedlichen Kulturen. Der Multikulturalismus postuliert zwar das Recht aller Kulturen auf freie Entfaltung. Er löst aber nicht die Problematik wachsender Parallelgesellschaften, in denen das kulturelle Erbe Europas als Fremdkörper betrachtet wird.

Diese Entwicklung ist keineswegs neu. In den islamischen Gesellschaften der ersten Jahrhunderte gab es eine Rezeption griechischer Philosophie. Diese wurde aber bald als heterodox empfunden und im 12. und 13. Jahrhundert abgestoßen. Sowohl Einflüsse des Neuplatonismus als auch aristotelische Denkschulen wurden bekämpft. Siegreich blieb der orthodoxe Islam, nach dessen Vorstellungen sich das Individuum der Umma und der Scharia unterzuordnen hat. Die Gemeinschaft der religiös geprägten Gruppe ist alles, die Würde und die Rechte des Einzelnen demgegenüber zu vernachlässigen. Die spezifisch europäische Vorstellung von der Letztgeltung des einzelnen Menschen, seiner Freiheit und Würde ist den islamisch geprägten Kulturkreisen daher bis heute fremd geblieben.

In Europa war es vor allem die lateinische Theologie der Westkirche (anders als die Theologie der Ostkirche), die die europäische Vorstellung von der Autonomie des Individuums begünstigte. Insbesondere der theologische Topos „Schuld und Rechtfertigung“ lenkte den Blick auf das Individuum. Von der Erbsündenlehre Augustinus bis zu Martin Luthers epochaler Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ wurden christologische Aussagen zunehmend auf das persönliche Ich bezogen.

In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, daß der moderne Personenbegriff von dem römischen Gelehrten, Philosophen und Theologen Boëthius (gest. 524) stammte. Als Lateiner schätzte er präzise Begriffsarbeit. So definierte er: „Person ist die individuelle Substanz einer geistfähigen Natur.“ Nach Boëthius waren biblische Figuren wie Petrus oder Paulus zwar von gleicher menschlicher Natur, aber eben auch unverwechselbare Personen. Damit wurde erstmals der Gedanke formuliert, daß menschlicher Geist substantiell und grundsätzlich individuell ist. Als denkfähiges, selbstreflexives Geistwesen ist der Mensch wesentlich Person. Zwar blieb der Handlungsspielraum des Denkens durch die Vorgaben des Glaubens bis in die Neuzeit begrenzt. Aber die erkenntnistheoretische Etablierung des Individuums wurde durch jüdisch-christliche Denkmuster begünstigt. Diese personale Sicht des Menschen ist somit zentraler Bestandteil des kulturellen Erbes Europas.

Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsraum

Heute muß dieses Erbe in zweifacher Hinsicht verteidigt werden. Zum einen gegen einen zunehmend entfesselten Individualismus in unseren westlichen Gesellschaften. Ein Hinwegsetzen des Subjekts über alles Vorgegebene führt dazu, daß der einzelne Mensch seine Bezugs- und Reibepunkte, bin hin zu Gott, verliert. Der heutige Durchschnittseuropäer erklärt seinen eigenen Erfahrungshorizont zum letztgültigen Maßstab der Weltbetrachtung. Die antithetisch errungene Freiheit löst sich somit selber auf, da ihr keine These mehr gegenübersteht. Peter Sloterdijk bringt es auf den Punkt: „Ohne transzendentalen Rückbezugspol sind wir dem Ungeheuer Welt eingefügt.“ 

Zum anderen gegen die Gefahr einer Islamisierung Europas. Wenn eine wachsende Population von Muslimen die Ergebnisse europäischer Kulturgeschichte entweder nicht versteht oder ablehnt, führt dies zu einer schleichenden Auflösung unseres kulturellen Erbes und befördert die Ausdehnung von Parallelgesellschaften.

Wenn der Sozialraum Europa geschützt werden soll und damit auch die Vorstellung von der Würde und Freiheit des Einzelnen, muß der gemeinsame Erinnerungsbestand europäischer Kultur immer wieder neu in unsere Gegenwart hereingeholt werden. Denn Kultur existiert nur als kulturelles Gedächtnis und schafft Identität durch Interaktion im gemeinsamen Erinnerungsraum. Wollen wir das kulturelle Erbe Europas nicht zur Disposition stellen und unsere Lebensweise schützen, sollten wir uns daher mit Homer fragen: „Wie kann ich die edlen Taten Odysseus bewahren?“