© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Nicht ansatzweise miteinander vereinbar
Der iranische Religions- und Rechtsgelehrte Mohsen Kadivar über das Verhältnis des Islam zur Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen
Tilman Nagel

Der Islam ist mit der Demokratie, mit dem Grundgesetz, mit den Menschenrechten vereinbar.“ Viele Politiker und Journalisten werden nicht müde, dies dem skeptischen Zeitgenossen zu versichern, desgleichen sogar verschiedene Fachwissenschaftler, sofern ihnen an öffentlichen Belobigungen gelegen ist. Mohsen Kadivar, ein iranischer Religions- bzw. Rechtsgelehrter, zerreißt das Netz dieser Illusionen: Der Islam ist auch nicht in Ansätzen mit den Menschenrechten vereinbar, wie sie beispielsweise in der Allgemeinen Erklärung von 1948 verkündet werden. 

Sechs Themenfelder benennt Kadivar, auf denen dieser Umstand besonders kraß ins Auge springt: Muslime und Nichtmuslime sind nicht gleichberechtigt; Männer und Frauen sind einander nicht gleichgestellt; ebensowenig Sklaven und Freie; die Religionsgelehrten genießen Vorrechte vor den übrigen Muslimen; es gibt keine Meinungsfreiheit, der Austritt aus dem Islam wird mit dem Tode bedroht; es gibt kein staatliches Gewaltmonopol, Selbstjustiz ist in vielen Fällen legal.

Kadivar, der sowohl in der schiitischen, aber auch in der sunnitischen Scharialiteratur dank seiner Ausbildung bestens bewandert ist, untermauert seine Erkenntnisse mit sachgerechten Zusammenfassungen einschlägiger islamischer Quellen und stellt ihnen jeweils die Aussagen der Menschenrechtserklärungen entgegen. 

So zeigt er etwa, wie das Ideal der religiös begründeten Autorität alle Bereiche des muslimischen Daseins beherrscht und auf diese Weise den Religionsgelehrten überall das letzte Wort vorbehält. Ein Vergleich mit den marxistischen Parteien in kommunistischen Staaten drängt sich auf, Kadivar zieht ihn freilich nicht. Die Menschenrechtserklärungen lassen hingegen eine solche privilegierte Stellung einer bestimmten Gruppe nicht zu, betonen vielmehr, daß alle Menschen gleich an Würde sind, den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern haben und in gleicher Weise an den öffentlichen Angelegenheiten mitwirken.

Nun lautet ein gern vorgebrachter Einwand, daß es sich bei den kritikwürdigen Standpunkten um vernachlässigenswerte Meinungen einzelner islamischer Gelehrter handele. Kadivar entkräftet diese Behauptung, indem er ausführlich darlegt, daß diese Standpunkte dem seit mehr als einem Jahrtausend herrschenden Welt- und Menschenbild des „historischen Islams“ entsprechen, mithin dem in einer langen Geschichte gewachsenen Selbstverständnis der Muslime. Manche muslimischen Religions- und Rechtsgelehrte haben inzwischen freilich gelernt, westlichen Gesprächspartnern gegenüber diesen Sachverhalt zu verschleiern: Einzelne Aussagen des Korans bzw. der Überlieferungen von Mohammed und von den schiitischen Imamen, die auf den ersten Blick mit den Menschenrechten übereinstimmen, werden für den Kern des Islams ausgegeben. Ihm gegenüber verblasse alles Anstößige zur Nebensache.

Mit solch intellektueller Unredlichkeit ist Kadivar nicht einverstanden. Der „historische Islam“ ist, wie er ist, und das heißt, er ist nicht heilbar. Kadivar stellt ihm das Phantasma des „wahren Islams“ gegenüber, ähnlich wie eingefleischte Marxisten zwar einräumen, daß der „real existierende Sozialismus“ scheiterte, aber eben nur, weil er nicht die Verwirklichung des wahren Marxismus gewesen sei. Was ist nun der „wahre Islam“, in dem die Menschenrechte uneingeschränkt gelten sollten?

Mohsen Kadivar ist in seiner iranischen Heimat bedroht

Der „historische Islam“ erstrecke sich auf vier Felder, führt Kadivar aus. Erstens ist der Glaube zu nennen, der Glaube an einen weisen, allmächtigen, allwissenden und gerechten Gott sowie an das Prophetentum Mohammeds, das das Äußerste an dem Menschen erreichbarer Wahrheit verbürgt. An zweiter Stelle folgen die Tugenden und Werte der Verkündigung Mohammeds. Drittens umfaßt der „historische Islam“ sämtliche Regeln der rituellen Gottesverehrung. Viertens schließlich legt der „historische Islam“ die Gesetze der Machtausübung und des Zusammenlebens der Menschen fest. Wenn man nun das Regelwerk des zweiten bis vierten Bereichs im historischen Islam nach Maßgabe des „Wohls der Menschen“ ausdünne, werde man den „wahren Islam“ übrigbehalten. Da man zudem dieses Wohl unter den sich wandelnden Gegebenheiten des Daseins unterschiedlich auffasse, werde sich auf diese Weise auch die oftmals beklagte Starrheit des Islams lösen.

Wer diese Ausdünnung durchführen und unter welchen Umständen sie gelingen könnte, läßt Kadivar offen. Daß er solche Gedanken trotz ihres allgemeinen Charakters in iranischen Gefängnissen abbüßen mußte und andere ähnlich kühne Gelehrte sie mit ihrem Leben bezahlten, ist der erhellenden Einführung durch den Übersetzer Armin Eschraghi zu entnehmen. In seinem Heimatland Iran kann Kadivar nicht mehr leben.

Er ist keineswegs der erste und wird leider auch nicht der letzte sein, der wegen solcher Gedanken der Verfolgung durch die Sachwalter des „historischen Islams“ ausgesetzt ist – und dies, obwohl er hervorhebt, daß der erste Bereich, der Glaube, „absolut“ gelte und nicht angetastet werden dürfe. Doch da die anderen Bereiche samt und sonders Konsequenzen eben dieses Glaubens sind, stellen sich ernsthafte Zweifel an der Schlüssigkeit seiner Ideen ein. Gleichwohl ist die Lektüre dieses Buches gerade denjenigen dringend ans Herz zu legen, die ohne Unterlaß von einer konfliktfreien Eingliederung beliebig vieler Muslime in ein den Menschenrechten verpflichtetes Gemeinwesen reden.






Prof. Dr. Tilman Nagel lehrte von 1981 bis 2011 Arabistik an der Universität Göttingen und gilt in Deutschland als einer der führenden Islamexperten.

Mohsen Kadivar: Gottes Recht und Menschenrechte. Eine Kritik am historischen Islam. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2017, 191 Seiten, broschiert, 19 Euro