© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

Ein Armutszeugnis für Schönrechner
Bertelsmann-Studie: Alleinerziehende sind in Deutschland finanziell deutlich schlechter gestellt als bisher angenommen
Christian Schreiber

Die Situation von Alleinerziehenden und Familien mit geringem Einkommen ist nach einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung offenbar deutlich schlechter als bisher angenommen. Demnach ist vor allem die Einkommenssituation von Alleinerziehenden besorgniserregend. Wissenschaftler der Ruhr-Universität-Bochum haben dafür die bislang gängige Berechnung der Armutsrisikoquote überprüft und sind zu einem negativen Ergebnis gekommen. Das Verfahren unterschätze, wie schwierig die finanzielle Lage von Haushalten mit Kindern sei. „Arme Familien wurden reicher gerechnet, als sie tatsächlich sind“, heißt es in der Studie. Laut den Berechnungen früherer Studien waren 46 Prozent der Alleinerziehenden armutsgefährdet. Laut der neuen Studie sind es dagegen 68 Prozent. Zudem habe sich von 1991 bis 2015 die Einkommensschere zwischen wohlhabenden und armen Familien viel stärker auseinanderentwickelt als bislang angenommen.

Das Äquivalenzeinkommen macht den Unterschied

Der Unterschied der neuen Studie im Vergleich zu den bisherigen Erhebungsmethoden liegt in der Berechnung des Äquivalenzeinkommens. Der Wert bestimmt, wieviel Einkommen notwendig wäre, um Alleinlebenden einen ähnlichen Lebensstandard zu ermöglichen wie Mitgliedern größerer Haushalte. Bei dieser Methode wird das Haushaltseinkommen nicht einfach durch die Zahl der Personen in einem Haushalt geteilt. Eine Familie mit einem Monatseinkommen von 4.000 Euro habe laut Studie einen höheren Lebensstandard als vier Alleinstehende mit einem Einkommen von nur 1.000 Euro.

Ausschlaggebend seien hierbei die Haushaltsersparnisse, die in Familien höher seien als in Singlehaushalten. Eine Familie mit vier Personen habe gegenüber einem Single beispielsweise den Vorteil, daß sie nicht vier Eßtische oder vier Fernseher für den gleichen Wohnkomfort brauche. Dadurch habe die Familie Einsparungen.

Laut OECD-Skala gilt der Standard, daß für jedes Haushaltsmitglied über 14 Jahren ein Äquivalenzgewicht von 0,5 und für jedes unter 14 Jahren von 0,3 angenommen wird. Für die Bertelsmann-Studie wurde nun zusätzlich das verfügbare Haushaltseinkommen berücksichtigt.

Laut der Studie erhöht sich demnach das Armutsrisiko von Familien mit jedem weiteren Kind. 2015 war rund jedes achte Paar (13 Prozent) mit einem Kind armutsgefährdet, heißt es in der Erhebung. Bei zwei Kindern sei es jedes sechste Paar (16 Prozent) gewesen, bei drei Kindern fast jedes fünfte (18 Prozent).

Als arm gelten Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Kinder belasten finanziell ärmere Familien verhältnismäßig stärker. Je mehr Kinder in einem Haushalt leben, desto höher sind dann auch die Belastungen im Alltag, die für die Studie dann mit den anderen Haushaltsersparnissen verglichen wurden.

Die Studie basiert unter anderem auf Zahlen des Statistischen Bundesamts. Der Ruf nach einer neuen Methodik ist nicht unumstritten: „Die Diskussion um die Methodik wird seit den neunziger Jahren geführt“, sagt der OECD-Experte für Sozialpolitik Michael Förster gegenüber der Deutschen Presseagentur. Wieder methodische Diskussionen zu führen, wäre ein Rückschritt. Es brauche die OECD-Skala, um Ländervergleiche zu ermöglichen. Der Trend der Bertelsmann-Studie sei aber sicherlich richtig, „wir kommen im Detail nur zu anderen Ergebnissen“.

In den Reihen der Großen Koalition sorgte die Studie für die üblichen Reaktionen. „Kinderarmut ist eines der drängendsten Probleme in unserem Land.“ In den Koalitionsgesprächen habe man bereits ein milliardenschweres Paket zur Bekämpfung von Kinderarmut durchsetzen können“, erklärte Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) und verwies auf den Anstieg des Kindergelds von 25 Euro pro Monat.