© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

Beliebig und selbstvergessen
Abschied von der Nation: Die Großkoalitionäre rechtfertigen ihre Politik mit „europäischen Werten“
Thorsten Hinz

Ein Kapitel über Europa leitet den Koalitionsvertrag ein. Mehr als 300mal taucht das Zauberwort im Vertragstext auf. Doch bietet der Wechsel von der nationalen zur postnationalen Perspektive keinerlei Horizonterweiterung. Gemeint ist nämlich nur die EU. Zum geistigen und kulturellen Erbe, das Europa definiert und den Kontinent als Geschichts-, Kultur- und konkreten Lebensraum der Europäer strukturiert, fällt deutschen Politikern nichts ein. Dieser Raum ist durch eine gewachsene Vielfalt nach innen reich gegliedert und bildet nach außen eine Einheit von besonderer Qualität und Faszination. Diese singuläre Einheit wird verbürgt durch das Erbe der Antike und des Christentums, dessen religiöse Bindekraft zwar nachläßt, aber in säkularen Formen weiterwirkt. Das nach wie vor einzigartige Lebensniveau Europas erschöpft sich nicht in materiellen Gütern und wird nicht nur aus ökonomischen Quellen gespeist. 

Den Vertragspartnern ging es lediglich darum, eine Politik, die sich mit nationalen Notwendigkeiten nicht rechtfertigen läßt, die das Land vielmehr zugrunde richtet, durch einen angemaßten Europa-Bezug zu legitimieren und unanfechtbar zu machen. Der vereinheitlichte Wirtschaftsstandort und Absatzmarkt soll durch den Umverteilungsstaat ergänzt und der Nationalstaat in eine politbürokratische Zwangsjacke gesteckt werden. Im Vertragstext klingt das so: „Die Europäische Union muß ihre Werte und ihr Wohlstandsversprechen bewahren und erneuern.“

Wer seine Politik mit „Werten“, also mit subjektiv moralisch als gut befundenen Eigenschaften, Qualitäten oder Glaubenssätzen begründet, macht damit nach aller Erfahrung das Recht auf Gesetzesbruch geltend. Die Flutung des Kontinents mit Dritte-Welt-Migranten durch die Regierenden liefert den aktuellen Beweis dafür. Die „Tyrannei der Werte“ setzt den „juristisch sinnvollen Vollzug, der nur in konkreten Ordnungen auf Grund von festen Satzungen und klaren Entscheidungen vor sich geht“ (Carl Schmitt), außer Kraft und zerstört die staatlichen Institutionen. Unter Berufung auf die „europäischen Werte“ will man beispielsweise die Visegrád-Staaten zwingen, gegen den Volkswillen, gegen Recht und Gesetz und gegen ihre konkrete Ordnung die Grenzen für eine unkalkulierbare Armutseinwanderung und für die tödlichen Potentiale des Islamismus zu öffnen.

Der politische Irrsinn gedeiht auf der Basis einer kulturellen Beliebigkeit und Selbstvergessenheit. Ihre Wortführer wollen nichts davon wissen, daß Kulturen auch Sinn- und Ordnungssysteme bilden, die sich nicht im Zeichen einer Menschenrechtsideologie willkürlich vermischen lassen. In der „Pariser Erklärung“, die konservative Intellektuelle aus neun europäischen Ländern vor einigen Monaten verabschiedeten (JF 43/17), werden die Prägung der Gegenwart durch das europäische Kultur- und Geisteserbe, das Zusammenspiel von Kultur, Ästhetik, Rechtssicherheit, gediegener Lebenswelt und Demokratie, metaphorisch beschrieben: „Ein europäischer Geist der Einigkeit erlaubt uns, Vertrauen in die Sicherheit der öffentlichen Räume zu haben, selbst wenn wir einander als völlig Fremde begegnen. Die öffentlichen Parkanlagen, die zentralen Plätze und die breiten Boulevards der europäischen Ortschaften und Städte drücken das europäische politische Bewußtsein aus: wir teilen unser gemeinsames Leben und die res publica.“

Es ist allerdings schwierig, mit solchen Positionen noch öffentliche Resonanz zu erzielen. Amazon, Facebook, Google, überhaupt die Massenkultur, konstituieren neue kulturelle Ordnungssysteme und überwuchern mit ihren bunten Reizen die Vergangenheit. Manche bezweifeln, daß es eine spezifisch europäische, geschweige denn nationale Kultur in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch gibt. Der Philosoph Ortega y Gasset war, als er um 1930 den „Aufstand der Massen“ verfaßte, noch überzeugt von der kulturellen Dominanz Europas, und das trotz des Aufstiegs der Kolossalmächte USA und Sowjetunion, die den alten Kontinent von Ost und West her verschatteten. Sie seien nur „Randgebiete der europäischen Herrschaft, die durch ihre Ablösung vom Rumpf ihren Sinn verloren haben“.

Für Ortega war der europäische Mensch einer, der in Zusammenhängen lebt. Dem Spanier könnten dabei die Gemälde El Grecos, „des Griechen“, vor Augen gestanden haben. In den langgestreckten Körpern und dem diskret-verzückten Gesichtsausdruck seiner Figuren manifestiert sich die Einheit von Irdischem und Göttlichem, von Immanenz und Transzendenz.

Dagegen waren „Moskau“ und „New York“ für Ortega die Metonyme für die zwei Varianten des modernen Massenmenschen: Der eine Begriff stand für den Homo sovieticus, der dem totalitären Staat unterworfen ist. Dieser Typus hatte sich relativ früh erledigt und wurde 1989 endgültig beerdigt. Siegreich war hingegen der westliche Einheitsmensch, der sich an die Logik des Produzierens und Konsumierens ganz entfremdet hat. Wobei zu beachten ist, daß die industrielle (wie auch die sozialistische) Revolution und die Massenproduktion maßgeblich in Europa vorbereitet und vorangetrieben wurden.

In den vergleichsweise traditionslosen USA konnte sich das Einheitsmodell aber am schärfsten herausbilden. Der niederländische Kulturphilosoph Johan Huizinga, der den Klassiker „Herbst des Mittelalters“ verfaßt hat, nannte in seinem „Amerika“-Buch als Charakteristika dieses Typus eine „primitive Geisteshaltung in einem hoch entwickelten ökonomischen Milieu. Die ganze Leichtgläubigkeit, der unkritische Sinn, die kapriziöse Reizbarkeit, das Festhalten an einmal gefaßten Vorurteilen, die naive Sentimentalität (...).“ Es ist nur folgerichtig, daß er heute seine Bespaßung, Bestandpunktung, Belehrung und Betreuung nicht nur nicht bemerkt, sondern sie für eigene, Kraft seiner Mündigkeit getroffene Entscheidungen hält.

Diese Eigenschaften charakterisieren längst die Mehrheit der Europäer. Insbesondere treffen sie auf den idealtypischen Bundesrepublikaner zu, der gelernt hat, daß die Traditionsbestände aus der Zeit vor 1945 überwiegend antidemokratisch, vormodern und daher auszusondern seien. 

Im europäischen Ausland wird an dieser Haltung gelegentlich Kritik geübt. Der polnische Philosoph Ryszard Legutko, ein Mitunterzeichner der „Pariser Erklärung“, kritisierte, daß die Transformation der postkommunistischen in die Gesellschaft des Westens „keinerlei Anzeichen eines tiefen Kultur- und Sittenaustausches, sondern nur diejenigen einer Massenverdummung“ zeige. Der Italiener Giorgio Agamben sorgte 2013 mit dem Aufsatz „Ein lateinisches Reich“ für erhebliches Aufsehen. Er mahnte, man könne von einem Griechen oder einem Italiener nicht verlangen, „daß er wie ein Deutscher lebt, doch selbst wenn das möglich wäre, würde es zum Verschwinden eines Kulturguts führen, das vor allem in einer Lebensform liegt“. Generell geht es aber nicht um den „Deutschen“, sondern um den europäischen Einheitsmenschen, der sich durch die Unkenntnis seiner kulturellen Grundlagen in tödliche Gefahr begibt.

Deutsche Koalitionspolitiker haben damit kein Problem. Denn statt über die „Massenverdummung“ hinauszuragen, sind sie deren Teilhaber.