© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

In Rußland undenkbar
Der Rote Gott: Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zeigt eine Ausstellung zum Personenkult um den Massenmörder Stalin
Christian Dorn

Sind so kleine Hände – die denunzieren die Mitschülerin, die während der Verkündung von Stalins Tod ihr Pausenbrot einfach weitergegessen hatte. In der Sonderausstellung „Der Rote Gott. Stalin und die Deutschen“ der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen bekennt die Liedermacherin Bettina Wegner, wie sie einer Klassenkameradin wegen dieses Sakrilegs „Klassenkloppe verordnet“ hatte, denn: „Ich war ein ziemlich verhetztes Kind, mit Gottesersatz Stalin.“

Diese Episode illustriert pars pro toto die in der Glaubensgemeinschaft des „Kollektivs“ exekutierte Schreckensherrschaft des Stalinismus, die mit  dem Tod des Diktators nicht einfach endete. So erinnert sich die russische Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, Mitbegründerin von Memorial und Autorin zahlreicher Bücher zu dem Thema, daß „das ganze Land wie erstarrt“ erschien, solange unklar war, ob Stalin tot oder lebendig war. „Vor allem konnte sich kaum einer vorstellen, daß Stalin sterblich sei.“ Als sie am 4. März 1953 mit ihrer Mutter in einer langen Schlange nach Eiern anstand, habe sie gefragt: „Mama, ist Stalin wirklich tot?“ Wie in einer Schockstarre verstummte daraufhin die ganze Menschenmenge. 

Sprachlos ist auch die am Boden liegende, aus einer Diskothek in Ulan Bator geliehene riesige Stalin-Statue am Eingang der Ausstellung. Diese hatten die Ausstellungsmacher – mit einer Genehmigung des Berliner Kultursenators Klaus Lederer (Die Linke) – für einen Fototermin an der Frankfurter Allee aufgestellt, der einstigen Stalinallee. Dies, so Scherbakowa am Eröffnungsabend, „sollte man in Rußland nicht machen – womöglich würde der dort stehen bleiben“. Denn tatsächlich seien unter Putin inzwischen Hunderte kleinerer Stalin-Statuen wieder aufgestellt worden. Eine so überraschend „facettenreiche“ Schau wie hier, zumal in der Größe und Öffentlichkeit, sei im heutigen Rußland nicht mehr denkbar.

Dies demonstriert gerade auch das Element des Komischen und Grotesken, das in der Ausstellung nicht zu kurz kommt, etwa mit den Satirezeitschriften Kladderadatsch (1937) oder Tarantel (1951). Zu Recht: Ist es doch – nicht zuletzt in der christlichen Theologie – das Lachen, das die Angst besiegt. So erscheint es nur folgerichtig, daß die Vorführung der Komödie „The Death of Stalin“, eine US-französische Produktion, in Rußland verboten wurde (deutscher Kinostart: 29. März 2018). In Wirklichkeit, so eine Legende, soll der „stählerne“ Despot, als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili einst Schüler des Priesterseminars Tiflis, vom Sterbebett aus wiederholt auf eine Ecke des Schreibtischs gedeutet haben, doch keiner habe ihn verstanden – dort hatte demnach der „große Lehrer und Führer der Menschheit“, tief in der Schublade versteckt, eine Marienikone aufbewahrt.

Lobpreisungen in der DDR beim Tod Stalins 1953

 Tatsächlich, so Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe, war der Tod Stalins am 5. März 1953 für die kommunistische Welt so, „als hätte plötzlich die Sonne zu scheinen aufgehört“. Die Lobpreisungen überboten sich in der DDR-Propaganda mit Superlativen, die Dichter – so Johannes R. Becher – schrieben regelrechte Apotheosen. Das Neue Deutschland schlagzeilte: „Das Herz des größten Menschen unserer Epoche, des Genossen J. W. Stalin, hat aufgehört zu schlagen.“

Neben diesen Beispielen des ebenso grotesken wie gespenstischen Personenkultes um Stalin überrascht die Ausstellung mit Filmeinspielungen, etwa zur „dämonischen Musik“ der „Stalinorgel“, die für die Soldaten in den Schützengräben bedeutete, daß ihr „letztes Stündlein geschlagen“ hatte. Spannend aufgrund ihrer Authentizität sind die Erinnerungen Wolfgang Leonhards an die Gruppe Ulbricht oder die Propaganda der Prawda, auf deren Titelseite sechzigmal der Name Stalins prangte. Ein „Wochenschau“-Ausschnitt (1941) zeigt, untermalt von enthusiastischen Klängen, wie Wehrmachtssoldaten unter frenetischem Jubel der örtlichen Bevölkerung Stalin-Bildnisse zerstören. Historisch interessant ist auch das Tondokument einer Rundfunkansprache Hitlers vom 8. November 1942, in der dieser zum Kampf um Stalingrad selbstherrliche, wirklichkeitsfremde Erklärungen abgibt. 

Berlins Kultursenator Lederer, Jünger des alljährlichen Luxemburg-Liebknecht-Kultes an der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Friedhof Friedrichsfelde, erinnerte zur Eröffnung der Ausstellung daran, daß bei Funktionärsversammlungen immer ein Stuhl für Stalin freigehalten wurde, und wünschte der Schau „ein weites Echo – wir ziehen keinen Schlußstrich“. Vor diesem Hintergrund wirkte der Verweis Knabes auf die einschlägigen Sahra-Wagenknecht-Zitate, mit denen die Linke-Politikerin die Politik des Massenmörders Stalin als alternativlos verteidigt, durchaus provokant. Doch leider verhallte dies ohne mediale Resonanz.

Die Ausstellung „Der Rote Gott. Stalin und die Deutschen“ ist bis zum 30. Juni in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Genslerstraße 66, täglich von 9 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt ist frei. Telefon: 030 / 98 60 82-30

Der Katalog zur Ausstellung mit 176 Seiten und 134 Abbildungen kostet 20 Euro.

 www.stiftung-hsh.de