© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

Nur offene Türen theatralisch eingerannt
Linke Bilanz zur Bewegung von 1968: Letztlich nur die nützlichen Idioten der „neoliberalen Konterrevolution“
Dirk Glaser

Im Gegensatz zum gerade anhebenden  leitmedialen Jubelchor, der 2018 in einer Endlosschleife die „Errungenschaften“ der „Studentenrebellion“ preisen wird, neigt die Zeitgeschichtsforschung seit kurzem stärker zur „Entmythologisierung“ solcher altlinken Legenden. Mehr als die bescheidene Rolle von „Katalysatoren des Lebensstilwandels“, so befand selbstkritisch ein 68er-Aktivist wie Frank Böckelmann, hätten er und seine Genossen nicht gespielt. Die „Bewegung“ rannte theatralisch offene Türen ein, und ihr Kampf um die „Emanzipation“ von allerlei „Unterdrückungsagenturen“ wie Staat und Familie räumte nur Überbleibsel des bürgerlichen Zeitalters ab, die dem marktradikalen Aufbruch in die neoliberale „Konsum-Demokratie“ noch im Weg standen.

Abschied vom Sozialstaat wurde 1973 eingeläutet 

Die Berliner Globalisierungskritikerin Birgit Mahnkopf sieht das in einem Beitrag zum Thema „50 Jahre Studentenbewegung“ ganz ähnlich (Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2018). 1973 sei mit dem Militärputsch in Chile der Startschuß zur, wie es der US-Ökonom Milton Friedman freimütig formulierte, „neoliberalen Konterrevolution“ gefallen. Sie löste den wohlfahrtsstaatlichen Keynesianismus ab, der insbesondere Westeuropas Nachkriegsgesellschaften geformt hatte. Der in den achziger Jahren globalisierte „finanzgetriebene Kapitalismus“ begann dann, die nach 1945 institutionalisierten Absicherungen des „sozialen Friedens“ einzuschränken oder zu beseitigen, und boxte weltweit die „Privatisierung öffentlichen Eigentums“ durch.

1973, das Jahr der „Ölkrise“, war ein günstiger Moment, um den Abschied vom Sozialstaat einzuläuten. Denn das mit „Wohlstand für alle“ lockende, damit sozialen Frieden erkaufende „Akkumulationregime“ stieß erstmals an „Grenzen des Wachstums“. Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) war ausgeträumt. Zu diesem Zeitpunkt hatte auch die politisch-ökonomisch allein relevante 68er-Fraktion Ambitionen auf einen Systemwechsel begraben. Mahnkopf meint damit jenen harten, marxistisch geschulten Kern der Studentenbewegung, der im Rahmen einer kurzzeitigen „Volksbildungswelle“ den Brückenschlag in die Betriebe versuchte, um das „Klassenbewußtsein“ der vom Konsumismus eingeschläferten Arbeiterschaft zu wecken. Ein Ansatz, der rasch scheiterte. Langfristig Erfolg hatte hingegen jene systemstabilisierende 68er-Mehrheit, die parallel zum neoliberalen Triumphzug maßgeblich mitwirkte, die „Ideologie des Individualismus“ durchzusetzen.

Diese zur Stützung des kapitalistischen Status quo maßgeschneiderte Ideologie behandle alles Kollektive als Zwang und sehe die Organisation des Lebensglücks als Privatangelegenheit. Ein Weltbild, das beitrug zur Entpolitisierung der bundesdeutschen Gesellschaft, zur Verschleierung fortbestehender Klassenherrschaft und zur Neutralisierung der Kritik „in der Sprache kollektiver sozialer Rechte“. 

Die „akademische grün-liberale Linke“ spreche daher nicht mehr von Klassenverhältnissen, sondern von „Herausforderungen des friedlichen Zusammenlebens in einer modernen, multikulturellen Gesellschaft“. Arbeiter sind diesen neoliberalen Mitläufern unbekannt. Stattdessen blicken sie zynisch auf „Abgehängte“ und „Hartzer“ herab. Deren Ängste und Wünsche, beklagt Mahnkopf, würden jetzt von der überall in Europa erstarkenden „politischen Rechten“ im „fremdenfeindlichen“ Sinn „instrumentalisiert“.