© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Einzelhandel schlägt Alarm
Organisierte Banden plündern Geschäfte: Mindestens zwei Milliarden Euro Schaden jährlich / Lasche Verfolgung durch Staatsanwaltschaften und Gerichte
Martina Meckelein

Parfüm, hochwertige Handtaschen, Smartphones, Schmuck oder Babybrei – alles, was teuer, leicht zu transportieren und zu Geld zu machen ist, wird gestohlen. Und das in steigendem Maße. Der Einzelhandel stöhnt. Zwar erwirtschaftet er jährlich über 420 Milliarden Euro Umsatz, doch allein im vergangenen Jahr entstand ihm durch Ladendiebstahl ein Schadensvolumen von über zwei Milliarden Euro. Diese Zahl errechnete im Juli das EHI Retail Institute e. V. (früher Euro-Handelsinstitut mit Sitz in Köln). Dem stünden Ausgaben für Sicherheitskonzepte von 1,3 Milliarden Euro gegenüber.

Infolge der Veröffentlichung dieser Zahlen schlägt der Handelsverband Deutschland (HDE) Alarm. Er hat 100.000 Mitglieder und vertritt die Interessen von 400.000 selbständigen Unternehmen mit knapp drei Millionen Beschäftigten. Der Verband fordert eine konsequentere Bestrafung der Täter.

„Gesetze würden hartes Durchgreifen hergeben“

 HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth sagte daraufhin öffentlich: „Insbesondere die Zahl der schweren Ladendiebstähle wächst enorm.“ Genth forderte den Gesetzgeber auf, ein deutliches Stoppschild aufzustellen und dafür zu  sorgen, daß die Strafverfolgung strenger als bisher erfolge. Derzeit würden regelmäßig Strafverfahren eingestellt. In der Folge führe das zu erheblicher Frustration bei den Händlern.

Ladendiebstahl, also Diebstahl nach Paragraph 242 StGB, ist eine Straftat, die mit Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Doch vor den Schranken des Gerichts, wenn der gefaßte Täter denn überhaupt dort landet, wird seine Straftat rechtlich eher dem doch 1975 durch die Strafrechtsreform abgeschafften Mundraub gleichgesetzt. Von Strafverschärfung, wie immer behauptet, kann hier keine Rede sein. Ein Langfinger eben, der mal einen Stift oder eine Flasche Korn mitgehen läßt. Schwamm drüber.

Ladendiebstahl ist ein Massendelikt, dessen Wurzeln in der industriellen Revolution und dem Erscheinen der Kaufhäuser liegen. In Deutschland wurde er Ende des 19. Jahrhunderts zum Problem. Heutzutage fallen organisierte Klau-Kommandos, oft aus dem Ausland, die teils schwer bewaffnet mit Äxten und Brecheisen ausgerüstet sind, über die Läden und Kaufhäuser her und räumen sie aus.

Vergangenes Jahr registrierte die Polizei 6,37 Millionen Straftaten in Deutschland und damit einen Anstieg um 0,7 Prozent. Die Aufklärungsquote lag bei 56,2 Prozent. Den größten Anteil hat mit 37,3 Prozent der Diebstahl.

Läßt die Justiz wirklich Ladendiebe laufen, wie Genth behauptet? „Ich kann es Ihnen nicht erklären, warum der Staat nichts macht – er kommt einfach nicht in die Pötte“, sagt Strafverteidiger Johann Trülzsch aus Berlin. „Unsere Gesetze würden das harte und schnelle Durchgreifen auch bei Ladendiebstahl hergeben. Aber die Verfahren werden massenhaft eingestellt. Und das übrigens nicht nur bei Ladendiebstahl, sondern auch bei schweren Körperverletzungsdelikten.“

Das Einstellen der Verfahren hat verschiedene Gründe: die Beweisbarkeit, die Überlastung der Justiz und die Überfüllung der Gefängnisse.

Zum einen ist der Vorwurf des schweren Ladendiebstahls kaum zu führen, da kriminelle Strukturen den Ermittlern meist verborgen bleiben und so die Delikte unter Paragraph 153 Strafprozeßordnung (StPO) subsumiert werden. Und das heißt wiederum: Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit. Das Strafgesetzbuch schließt nämlich einen schweren Diebstahl nach Paragraph 243  Absatz 2 StGB aus, wenn nur „geringwerte“ Sachen gestohlen würden.

Doch Kleinvieh macht eben auch Mist: Die Fallzahlen stiegen im Zeitraum von 2013 bis 2016 um 29,2 Prozent von 17.391 auf 22.476 Straftaten. Dabei ist von einer Dunkelziffer von 98 Prozent auszugehen – die allermeisten Diebstähle fallen erst durch die Kontrolle des Warenbestands auf. Die Täter sind über alle Berge, etwas anzuzeigen lohnt sich nicht.

Zum anderen werben Anwälte sogar mit der Überlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Wer das Stichwort Ladendiebstahl im Internet in eine Suchmaschine eingibt, wird unter den ersten zehn Treffern Hinweise zu Rechtshilfeauskünften finden. Da fragt zum Beispiel ein Nutzer am 25. Januar 2012: „Hallo, bin Ladendieb, Wert zwölf Euro. Erwischt von Ladendetektiv. Gleich hab’ ich bezahlt 50 Euro und bekomme ein Jahr Hausverbot. Frage: Welche und wie große Strafe bekomme ich noch?“

Die Antwort klingt beruhigend: „Bei einem Wert des Diebesgutes von lediglich 12 Euro handelt es sich um einen einfachen Ladendiebstahl einer relativ geringwertigen Sache; eben um einen ganz normalen Ladendiebstahl.“ Und so ein ganz normaler Ladendiebstahl wird dann nach Paragraph 153a StPO von der Justiz unter Auflagen und Weisungen eingestellt.

Die Gesetzesnorm regelt, unter welchen Voraussetzungen von der Verfolgung einer Straftat abgesehen werden kann. Auf der Internetseite einer Kanzlei ist dazu Folgendes zu lesen: „Die Einstellung nach Paragraph 153 StPO hat in der Praxis enorme Bedeutung. Staatsanwaltschaften und Gerichte sind chronisch überlastet, deshalb werden viele Strafverfahren im Ermittlungsverfahren oder auch noch in der Hauptverhandlung eingestellt, ohne daß es zu einer Bestrafung des Beschuldigten kommt. Das Gesetz sieht hierfür insbesondere die Einstellung gegen Auflagen nach Paragraph 153a StPO und die Einstellung wegen Geringfügigkeit nach Paragraph 153 StPO vor. Gerade mit der Einstellung wegen Geringfügigkeit werden im Bereich der Massen- und Bagatellkriminalität unzählige Verfahren ‘erledigt’. Aus unserer Sicht als Strafverteidiger ist Einstellung gemäß Paragraph 153 StPO neben der Einstellung gegen Auflage in vielen Verfahren ein lohnenswertes Verteidigungsziel, denn für den Beschuldigten ist die Einstellung folgenlos.“

Folgenlos bleiben diese Eigentumsdelikte für die Ladenbesitzer allerdings nicht. Laut dem EHI Retail Institute e. V. summierten sich 2015 im gesamten Einzelhandel die Inventurdifferenzen – bewertet zu Verkaufspreisen – auf vier Milliarden Euro. Die Handelsexperten schätzen, daß davon auf Ladendiebstähle durch Kunden rund 2,24 Milliarden Euro zurückzuführen sind. Den eigenen Mitarbeitern werden knapp 810 Millionen angelastet und den Lieferanten sowie Servicekräften etwas mehr als 340 Millionen Euro an Warenverlusten im Jahr zugerechnet. Die restlichen 640 Millionen Euro entfallen auf organisatorische Mängel.

„Die durchschnittliche Inventurdifferenz beträgt ein Prozent vom Umsatz, weitere Kosten entstehen durch Investitionen von rund 1,3 Milliarden Euro in Technik und Personal zum Diebstahlschutz“, so das EHI. „Insgesamt gehen dem Einzelhandel durch Inventurdifferenzen und Investitionen zu deren Vermeidung 1,3 Prozent des Umsatzes beziehungsweise absolut rund 5,3 Milliarden Euro verloren.“

Strafrechtler Johann Trülzsch vertritt ebenfalls Ladendiebe vor Gericht: „Allerdings geht es bei denen fast ausschließlich um Beschaffungskriminalität, also um das kriminelle Umfeld der Drogenkriminalität. Was mich umtreibt, ist die ausufernde Bandenkriminalität.“ Rund ein Viertel der Ladendiebstähle werden laut Polizei durch gut organisierte Banden begangen.

Gefängnisse sind oft      überfüllt und kostenintensiv

Trülzsch kennt diese Geschichten. „Die Berliner Schloßstraße war einmal eine ruhige und gute Adresse. Doch je mehr Einzelhändler hier Geschäfte eröffnen, desto mehr Ladendiebe tauchen hier auf. Die Filiale einer Gärtnerei-Kette wird hier mit schöner Regelmäßigkeit überfallen. Die Filiale einer hochpreisigen dänischen Konfektionsfirma schloß vor rund zwei Jahren. Die Verkäuferinnen erzählten mir, daß sie vom Stammsitz die Verfügung erhalten hatten, keine Anzeigen bei der Polizei zu erstatten – es lohne den Aufwand nicht. Von meinem Büro sehe ich direkt auf die Straße. Ich beobachte, wie jeden Abend vor einem Kaufhaus ein Security-Fahrzeug vorfährt – die stehen da die ganze Nacht. Vor einer anderen Filiale eines Outdoor-Geschäfts stehen fünf bis sechs Sicherheitsmänner. Was sollen die denn machen, wenn da 20 bis 30 Rumänen reinstürmen? Nichts. Die räumen den Laden innerhalb von Sekunden aus – das ist wie ein Flashmob.“ Wobei diese überfallartigen Ladendiebstähle gut organisiert zu sein scheinen. „Man muß nur schauen, wer da in den privaten Sicherheitsfirmen arbeitet“, macht Trülzsch aufmerksam. „Es ist doch immerhin denkbar – und es gibt dafür auch vage Hinweise –, daß ein Teil dieser Sicherheitsfirmen keinen anderen Zweck verfolgen, als die Objekte, die sie selbst zu schützen bekunden, auszukundschaften.“

Ein weiterer Grund, warum Ladendiebstahl folgenlos für die Täter ist: Zum Stichtag 31. August 2017 verfügte Deutschland über 73.742 Haftplätze im geschlossenen und offenen Vollzug. Belegt waren die Plätze mit 64.223 Häftlingen, davon 3.800 Frauen. Doch die Gefängnisse sind zum Teil überfüllt. Eine Umfrage der Deutschen Presse- Agentur im Mai 2017 ergab, daß in Sachsen, Baden-Württemberg, Berlin, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen in einigen Justizvollzugsanstalten mehr Häftlinge als ursprünglich vorgesehen säßen. Zellen würden aus diesem Grund doppelt belegt oder Gefangene in andere Gefängnisse des Bundeslandes verlegt werden. In Sachsen prüften die Staatsanwaltschaften, ob ausländische Täter aus EU-Ländern ihre Strafe im Heimatland absitzen könnten.

Und teuer sind Gefängnisse auch. In Berlin kostet ein Haftplatz den Steuerzahler rund 137 Euro pro Tag in der Strafhaft. Das ist noch preisgünstig. Zum Vergleich: In Brandenburg kostet laut Märkischer Allgemeiner ein Haftplatz im Jahr 2016 pro Tag 153,52 Euro. Dabei läßt sich das Land Berlin seine Haftanstalten etwas kosten. Die B.Z. berichtete am 13. Dezember vergangenen Jahres: „Die JVA Heidering wurde für 118 Millionen Euro erbaut und 2013 eröffnet. Jeder Haftplatz kostet hier 182.000 Euro.“ Ladendiebstahl ist allerdings nicht nur ein Problem in großen Ballungsräumen wie Berlin, Hamburg oder Nord­rhein-Westfalen. Eine kleine Anfrage des Schweriner AfD-Landtagsabgeordneten Thomas de Jesus Fernandes aus dem Sommer 2017 ergab, daß zwar die Anzahl der ermittelten Tatverdächtigen in den Jahren 2007 bis 2016 von 8.063 auf 4.776 zurückging. Dafür stieg der Schaden aber von 468.783 auf 627.914 Euro. Wie auch der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen: von 7,6 auf 19,8 Prozent.