© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Wenn Wahrheit meßbar wird
Lügendetektor: Nach dem erstmaligen Einsatz zur Urteilsfindung in Bautzen bleibt der Polygraph umstritten
Paul Leonhard

Das Amtsgericht im ostsächsischen Bautzen ist dabei, Rechtsgeschichte zu schreiben. Das Gericht erregte deutschlandweite Aufmerksamkeit, weil es einen Lügendetektor zur Urteilsfindung eingesetzt hatte: Im Herbst vergangenen Jahres wurde ein Angeklagter von einem Mißbrauchsvorwurf freigesprochen, weil ihn eine polygraphische Untersuchung entlastet hatte. Daß entlastende Ergebnisse einer polygraphischen Untersuchung als entlastendes Indiz auch in Strafverfahren verwertbar sind, hatten die Bautzner Richter bereits im März 2013 festgestellt.

Als Expertin für den Einsatz von Lügendetektoren gilt die Kölner Rechtspsychologin, Gisela Klein, die  mit einem Polygraphen zum Prozeß nach Bautzen gereist war. Richter Dirk Hertle bekannte sich vor Beginn der Verhandlung gegenüber der Sächsischen Zeitung zum umstrittenen Verfahren: „Ich schwöre darauf.“ In der Verhandlung zitierte Hertle eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden von 2013, nach der die „Untersuchung mit einem Polygraphen“ im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ein geeignetes Mittel sei, einen Unschuldigen zu entlasten. 

Forscher entwickeln      Alternative

Diese Entscheidung war allerdings 2014 vom Bundesverwaltungsgericht kritisiert worden, weil das OLG Dresden und das Amtsgericht Bautzen „nicht ausreichend zur Frage eines festen Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Aussageverhalten und spezifischen Reaktionsmustern des vegetativen Nervensystems Stellung genommen haben“.

Der Bundesgerichtshof hatte 1954 den Einsatz von Lügendetektoren verboten, weil dieser den Willen des Beschuldigen beeinträchtige und die in Paragraph 136a Strafgesetzbuch garantierte Willensfreiheit untergrabe. Derartige Tests würden die Menschenwürde verletzen. In weiteren Urteilen verwies der Bundesgerichtshof 1998 und 2010 auf die mangelnde Verläßlichkeit der Ergebnisse, die durch den Einsatz eines Lügendetektors erzielt werden. Allerdings räumten die Richter ein, daß „bei freiwilliger Mitwirkung des Beschuldigten die Durchführung einer solchen Untersuchung des seine Entlastung erstrebenden Beschuldigten eher dem Schutzgebot der Verfassung und seinem Verteidigungsinteresse gerecht werden“. 

Ausgangspunkt war die Erkenntnis, daß viele Menschen in Verhörsituationen nervös werden, wenn sie lügen: Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird schneller, die Hände schwitzen. Daher lag die Idee nahe, bei Angeklagten Durchblutung und Herzschlag zu messen. Spione in aller Welt lernten schnell, wie sich Lügendetektoren austricksen lassen, alle anderen hatten, wie es US-Präsident Richard Nixon formulierte, eine „Scheißangst“ vor diesen Geräten. Fehlurteile waren vorprogrammiert, denn körperliche Reaktionen lassen sich unterdrücken oder willkürlich herbeiführen. So ist die Geschichte der angeblichen Wahrheitsfindungsmaschine voller falscher Urteile, seit der Polizist John Augustus Larson 1921 erstmals einen Lügendetektor eingesetzt hatte. Bekannt wurde der Fall von Melvin Foster, der 1982 als Verdächtiger in den Green-River-Morden einen Polygraphen-Test nicht bestand und danach jahrelang öffentlich verdächtigt wurde, obwohl es keinerlei Beweise gegen ihn gab. Erst 19 Jahre später wurde der wahre Mörder aufgrund von DNS-Spuren überführt. Dieser hatte von Anfang an als Hauptverdächtiger gegolten, aber zwei Lügendetektortests erfolgreich bestanden und so seine Mordserie fortsetzen können.

Auch wenn die Ergebnisse von Polygraphen heute in den meisten Ländern vor Gericht keine Beweiskraft besitzen, haben die Wissenschaftler den Traum von einer funktionierenden Wahrheitsfindungsmaschine nicht aufgegeben. Aktuell wird mit hochauflösenden Wärmebildkameras experimentiert, die die Durchblutung rund um die Augen aufzeichnen, damit einzelne Blutgefäße analysiert werden können. Das Verfahren soll bei Grenzkontrollen und Verhören zur Anwendung kommen – als Entscheidungshilfe, nicht als Beweismittel. Zumal die Aufzeichnungen eines Polygraphen unterschiedlich interpretiert werden können. Im Test werden Atemfrequenz, Puls, Blutdruck, Schwitzen und Zittern gemessen. Die körperlichen Reaktionen, die das Gerät registriert, würden nicht durch die Antworten des Probanden ausgelöst, sondern bereits durch die Fragen, die ihm gestellt werden und auf die er körperlich reagiert, erläuterte Klein der Westdeutschen Zeitung. Sie ist sich sicher, daß selbst Entspannungsübungen einem Befragten nicht helfen, den Lügendetektor zu überlisten, weil jede Lüge das Gehirn anstrenge und genau das gemessen werde. Bei den Befragungen wechseln Vergleichsfragen, die schwieriger zu beantworten sind, Verdachtsfragen ab. Erstere würden einen Unschuldigen mehr anstrengen, letztere könne er wahrheitsgemäß beantworten.

Der Direktor des Amtsgerichts Bautzen, Markus Kardenbach, ist überzeugt, daß ein Lügendetektor ein „Hilfsmittel“ sein kann, „um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen beurteilen zu können“. Und nach dem Einsatz bei dem Mißbrauchsprozeß in Bautzen, der mit einem Freispruch des Angeklagten endete, hofft Richter Hertle auf „einen Durchbruch“ für den Lügendetektor. Andere sind da skeptischer. So hatte Anfang Februar ein der Brandstiftung angeklagter Mann im thüringischen Mühlhausen beantragt, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen. Der Vorsitzende Richter verwies auf dessen Unzulässigkeit als Beweismittel.