© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Ein Land, von dem man gut und gerne lebt
Die Bundesrepublik zahlt Kindergeld für EU-Kinder, die gar nicht hier wohnen, in voller Höhe: Eine Anpassung des Betrages an die Lebenshaltungskosten des jeweiligen Landes verstößt indessen gegen EU-Recht
Christian Rudolf / Mathias Pellack / Felix Krautkrämer

Deutschland zahlt an Eltern aus anderen europäischen Staaten, deren Kinder nicht in Deutschland leben, Kindergeld in deutscher Höhe. Die Bundesregierung gibt sich ahnungslos über die genaue Summe. Und unternimmt wenig, um die Belastung für die Staatsfinanzen zu senken. Das Ausmaß ist beträchtlich: Es geht um jährlich dreistellige Millionenbeträge.

Der Reihe nach: Die 14 deutschen Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit zahlen an Eltern aus anderen EU-Staaten, die hier Arbeitnehmer sind, Kindergeld aus, auch wenn die Kinder gar nicht in Deutschland leben. 194 Euro für das erste und zweite Kind, 200 für das dritte, 225 für jedes weitere. So sind die deutschen Sätze. Auch wenn das Kindergeld (oder Vergleichbares) im jeweiligen Heimatland damit zu verrechnen ist, ergeben sich Zahlbeträge, die oft das Zehnfache der Leistungen des Heimatlands ausmachen. Piotr und Katarzyna aus Lodsch, Étienne aus Metz, Vlado und Milena aus Zagreb und Ion, Horia und Corneliu aus dem Banater Bergland dürfen sich freuen. 

Deutschland wird in der EU mit der Höhe des Kindergeldes nur von Luxemburg übertroffen (265 Euro je Kind), alle anderen Staaten liegen darunter, teils deutlich. Polen: rund 120 Euro bei zwei und weiteren Kindern, für das erste Kind nur bei sehr geringem Einkommen. Frankreich: für das erste Kind nichts, für das zweite 120,32 Euro. Niederlande: angefangen von rund 67 Euro für Kinder bis einschließlich fünf Jahre bis rund 96 Euro bis einschließlich 17 Jahre. Rumänien: altersabhängig 18,50 bis 40 Euro pro Kind. Bulgarien: 19 Euro pro Kind. Griechenland: 5,87 Euro für das erste Kind, 18 Euro insgesamt bei zwei Kindern, 40 Euro insgesamt bei drei Kindern. Lettland: 11,38 Euro für das erste Kind, 22,76 Euro für das zweite Kind, 34,14 Euro für das dritte; 50,07 Euro gibt es ab dem vierten Kind.

Zwei Kinder bringen soviel wie ein Durchschnittslohn 

Wegen des weit niedrigeren Einkommensniveaus in Osteuropa ist das hohe deutsche Kindergeld verlockend. Und wirkt auf Migranten wie ein Magnet. Zumal diese Familienleistung über die Jahre immer wieder erhöht wurde: Im Jahr 2008 lag es für die ersten drei Kinder noch bei 154 Euro, für alle weiteren Kinder bei je 179 Euro. 1998 zahlten die Familienkassen nur umgerechnet 112 Euro für die beiden ersten Kinder, 153 Euro für das dritte und für alle folgenden Kinder 179 Euro. 

Schließlich gelangt man mit dem aktuellen deutschen Kindergeldbetrag für zwei Kinder in Rumänien schon in die Nähe des dortigen Netto-Durchschnittslohns von 483 Euro. Oder übertrifft den in Lettland gültigen Mindestlohn von 380 Euro für eine 40-Stunden-Woche.

Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß die Zahl der anspruchsberechtigten EU-Kinder von Jahr zu Jahr wächst. Ein Elternteil nimmt in Deutschland eine Arbeit auf, meist im Niedriglohnsektor, und überweist das einkommensunabhängige Kindergeld an die zu Hause gebliebene Familie. Aktuelle Zahlen aus der Bestandstatistik der Bundesagentur für Arbeit, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegen, zeigen folgendes Bild: Lebten im Jahr 2010 nur rund 56.000 Kinder von bei uns Beschäftigten aus dem EU-Ausland in anderen EU-Ländern, so waren es im Dezember 2017 schon rund 204.000. Der deutsche Staat zahlte 2017 318,9 Millionen Euro an Eltern mit EU- und EWG-Staatsangehörigkeit für deren nicht in Deutschland lebende Kinder.

Die Tabelle der Leistungsempfänger wird Jahr für Jahr mit uneinholbarem Abstand von Polen angeführt: Die meisten Eltern, die deutsches Kindergeld bezogen, deren Nachwuchs aber nicht in Deutschland lebt, sind polnischer Staatsangehörigkeit. Sie bezogen 2017 den Löwenanteil der Zahlbeträge, nämlich 189,5 Millionen Euro. Daß die Überweisungen an polnische Kindergeldberechtigte nach dem Allzeithoch von 2016 (248,9 Millionen Euro) zuletzt wieder rückläufig sind, liegt in der Hauptsache an der massiven Erhöhung des polnischen Kindergelds durch die sozialkonservative PiS-Regierung (Programm „Familie 500 plus“). Die polnische Leistung wird mit der nachrangigen deutschen verrechnet.

Auf dem zweiten Platz folgen Rumänen (30,9 Millionen Euro), sodann Franzosen (21,2), Ungarn (17,0) und Kroaten (11,3).

Die Daten der Bundesagentur standen vielfach in der Presse. Der Rechtsanspruch EU-ausländischer Familien auf deutsches Kindergeld führt in Verbindung mit dem Kinderfreibetrag – das Kindergeld ist für Arbeitnehmer nichts anderes als eine vorweggenommene Einkommensteuererleichterung – jährlich zu Steuermindereinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe. Die Bundesregierung hat indessen angeblich kein Wissen darüber, um welche Summen an Kindergeld es geht und in welchen EU-Staaten die Kinder leben.

Dies legt die Antwort der geschäftsführenden Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion im Bundestag nahe. Unter anderem wollte die AfD wissen, wieviel Kindergeld der Staat im vergangenen Jahr für wieviele im Ausland lebende Kinder von EU-Bürgern ausgezahlt habe, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Ländern. Die Antwort vom 13. Februar 2018: „Zu den Zahlbeträgen für im Ausland lebende Kinder liegen der Bundesregierung keine Angaben vor.“ Die entsprechende Statistik der Bundesagentur für Arbeit würde lediglich Zahlungen auf ausländische Konten registrieren, jedoch nicht nach einzelnen Ländern differenzieren. Darüber hinaus sei nicht bekannt, „in welchem konkreten Mitgliedstaat der EU die Kinder ihren Wohnsitz haben“.

Das erstaunt insoweit, als Berlin die Problematik sehr hoher Ausgaben bekannt ist und in der Frage der „Indexierung“, das heißt der Anpassung des Kindergeldes an die Lebenshaltungskosten in dem jeweiligen Land, schon einmal weiter war. Ein Wegbereiter schien zunächst das Brexit-Abkommen zu sein, das die EU im Februar 2016 mit Großbritannien aushandelte: Es sah vor, für osteuropäische Zuwanderer die sozialen Zuschüsse deutlich zu senken. Es kam anders, die Briten stimmten für den EU-Austritt, das Thema war vom Tisch.

Im Dezember 2016 nahm Sigmar Gabriel, damals als Bundeswirtschaftsminister, den Ball noch einmal auf und sprach sich deutlich dafür aus, das Kindergeld für EU-Ausländer zu kürzen: „Wenn ein Kind nicht bei uns lebt, sondern in seinem Heimatland, dann sollte auch das Kindergeld auf dem Niveau des Heimatlandes ausgezahlt werden.“ Freizügigkeit dürfe nicht mißbraucht werden, um in Sozialsysteme einzuwandern. Lob und Kritik waren erwartungsgemäß verteilt: die CSU fühlte sich bestätigt, Grüne und Linkspartei lehnten den Vorstoß rundweg ab, aus Gabriels eigener Partei, der SPD, blies ebenfalls Gegenwind.

Im Koalitionsvertrag kommt die Problematik nicht vor

Vor gut einem Jahr bereitete das Finanzministerium unter Wolfgang Schäuble Pläne für eine entsprechend zu korrigierende EU-Verordnung vor, das Bundeskabinett formulierte Mitte April 2017 „Eckpunkte“ für die Indexierung. Die damalige Arbeitsministerin, Andrea Nahles, machte aber nicht mit unter dem Verweis auf Bedenken der Europäischen Kommission; die beabsichtigte Änderung sei nicht mit Brüssel abgestimmt.

Das war keine faule Ausrede. Denn es gilt die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Sie begründet den Rechtsanspruch auf deutsches Kindergeld auch für die in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Angehörigen. Artikel 67 bestimmt klipp und klar: „Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“ Artikel 1 definiert „Familienleistungen“ als „alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten“ – ergo: darunter auch Kindergeld. 

Am 13. Dezember 2016 hatte die EU-Kommission gerade jene Koordinierungsverordnung auf Verbesserungsbedarf hin abgeklopft. Ausgerechnet die den Deutschen auf den Nägeln brennende Problematik ließ sie unverändert: „Es ist nicht vorgesehen, die Leistungen für Kinder an einen Index zu binden: Das Land der Erwerbstätigkeit des Elternteils (der Eltern) ist auch weiterhin für die Zahlung der Kinderbeihilfe zuständig, und dieser Betrag kann nicht angepaßt werden, wenn das Kind woanders lebt.“ Die in der Stellungnahme nachgeschobene Begründung der Kommission wirkt allerdings nicht betonhart und scheint Spielraum zu lassen: „Die Auswirkungen einer Indexierung von Familienleistungen auf die nationalen Budgets wären gering im Vergleich zu den erheblichen Verwaltungskosten, die ein Indexierungsmechanismus verursachen würde.“

In der erwähnten Antwort auf die kleine Anfrage der AfD-Fraktion bekräftigte die Regierung aber auch, daß das europäische Recht beim Kindergeld zu „Ungleichgewichten“ führe; sie habe die Kommission im Rahmen der „Eckpunkte“ aufgefordert, in Richtung einer gesetzeskonformen Anpassung des Kindergeldes tätig zu werden.

Kurz vor der Formulierung jener „Eckpunkte“ vom April 2017 richtete auch der deutsche Bundesrat einen Beschluß direkt an die Kommission (Drucksache 761/16): Die Länderkammer kritisierte, daß sich die Kommission stur stelle und wies auf die „ungewollten Anreize für Armutmigration“ hin, die durch eine unverhältnismäßig hohe Kindergeldzahlung gegeben sei und zur Trennung von Familien führe. Der Bundesrat begrüße daher die Initiative der Bundesregierung.

Seitdem ist beinahe ein Jahr vergangen. Inzwischen sind die Karten neu gemischt, ist der Bundestag neu gewählt worden, die alte Bundesregierung ist nur noch geschäftsführend im Amt. Im aktuellen GroKo-Koalitionsvertrag 2018 findet sich zu dem Vorhaben, das Kindergeld länderspezifisch anzupassen, kein Wort. 

Foto: Kinder als Einkommensfaktor: „Dabei kann die Zahlung des vollen Kindergeldbetrags für Kinder, die in Mitgliedstaaten wohnen, die ein deutlich niedrigeres Lebenshaltungsniveau aufweisen, zu ungewollten Anreizen für Armutsmigration und die Trennung von Familien führen“, mahnte der Bundesrat in einem Beschluß an die Europäische Kommission