© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Nicht nur gute Manieren gibt es immer seltener
Wirtschaftspolitik: Staatliche Reglementierungen ersetzen zunehmend gesellschaftliche Konventionen
Dirk Meyer

Spätnachmittags zur Hauptverkehrszeit: Eine ältere Dame, sichtbar unbeholfen, steigt in den Bus. Wird ihr freiwillig ein Sitzplatz freigemacht? Ein anderes Beispiel: Ein Coffee-to-go-Becher verpaßt seinen Ein-Weg in den Abfallkorb. Wird der Verursacher darauf aufmerksam gemacht? Wie reagiert der gegebenenfalls Angesprochene? Zwei Beispiele, die zeigen, gesellschaftliches Zusammenleben erfordert Regeln, die Konflikte vermeiden helfen oder sie zumindest einer einvernehmlichen Lösung zuführen.

Und sie zeigen noch etwas: Die Regeln des allgemeinen Umgangs verlieren zunehmend an Verbindlichkeit. Um einer rücksichtslosen Regellosigkeit vorzubeugen, werden stattdessen sanktionsbedrohte Reglementierungen eingeführt und mehr oder weniger zur Geltung gebracht – als Beschilderung eines Behindertenplatzes oder als gesetzliche Vorhaltung, keinen Abfall illegal zu entsorgen.

Gesellschaftliches Ersatzgewissen?

Dabei sind die Konventionen des allgemeinen Umgangs überaus nützlich. Sie schaffen gesellschaftlichen Konsens, zeigen eine Zusammengehörigkeit und über die freiwillige Akzeptanz von Regeln begründet der Einzelne sein Selbst. Hinzu tritt eine generell hohe Wirksamkeit der Verhaltensnorm, die mit einer intrinsischen, aus sich selbst entstehenden Motivation erklärt werden kann.

Während die Nichtbeachtung oder Umgehung der Regel einer Selbstbeschädigung bis hinab zum Ausschluß aus der Gemeinschaft gleichkommt, ist ein Gesetzesverstoß zwar strafbewehrt, führt aber im Regelfall – soweit überhaupt verfolgt – nicht zu einer gesellschaftlichen Ächtung.

Ignoriert der Hundehalter das gemachte Häufchen und wird von Anwohnern beobachtet, so spricht sich dies schnell herum und sein Ansehen ist beschädigt. Demgegenüber bleibt die Straftat einer Steuerhinterziehung meist ohne öffentliche Kenntnisnahme und hat keinen Ausschluß aus dem Lebensumfeld zur Folge. Darüber hinaus reizt eine rein extrinsische, auf Zwang beruhende Motivation zur Umgehung.

Was sind die Ursachen ausufernder staatlicher Reglementierungen? Konventionen greifen bei Anonymität schwer. Digitalisierung, Mobilität und wenig dauerhafte private, berufliche und geschäftliche Verhältnisse charakterisieren eine eher bindungslose Gesellschaft. Die Entgrenzung einer Globalisierung, Multikulturalität und Diversität verengen die Schnittmenge verbindender Normen einer Gemeinschaftlichkeit.

Ein durchaus universaler Grundsatz menschlichen Zusammenlebens ist die „Goldene Regel der Gegenseitigkeit“: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Es entspricht dem Gebot der Nächstenliebe „wie dich selbst“. Belastungen sollen vermieden werden, die man nicht auch freiwillig selbst tragen würde. Dieser verbreitete Verhaltensgrundsatz ist jedoch mehr als nur eine ethische Regel.

Ökonomisch gesprochen werden die Folgen einer Entscheidung internalisiert, das heißt die Kosten sind vom Verursacher selbst zu tragen. Damit soll eine Kostenabwälzung auf Dritte, also eine Kostenexternalisierung, ausgeschlossen werden. Dies wird wichtig für eine Koordination bei Knappheit, wo knappe Ressourcen Interessenkonflikte hervorrufen und staatliche Regelungen wie Eigentums- oder Nutzungsrecht versagen – sei es beim nicht mehr zurechenbaren Hundehaufen, dem Anspruch bedürftiger Personen auf einen Sitzplatz in einem überfüllten Bus oder der freiwilligen Schonung der Umwelt, wenn der staatliche Natur- und Umweltschutz Lücken aufweist.

Zu denken ist auch an den Vorstoß ins technologisch-gesellschaftliche Neuland. Da staatliche Regelungen hier vielfach noch gar nicht erkennbar sind, wird das Ethos des Forschers bzw. der Anwender unverzichtbar, um aus freier Initiative Verantwortung zu zeigen und freiwillig auf gewisse Nutzungen zu verzichten, damit Gefahren von der Gesellschaft ferngehalten werden. Die Gen- oder Atom-Technologie wären Beispiele. Ganz allgemein beugt die „Goldene Regel“ den Unvollkommenheiten des Menschen vor, einschließlich nicht rückgängig zu machender Schädigungen wie Körperverletzungen.

Rechte und Pflichten angemessener regeln

Die Beispiele machen auch das produktive Zusammenspiel einer freiwilligen Internalisierung durch Verhaltensnormen, einer Internalisierung durch staatlichen Zwang sowie vertraglicher Absprachen deutlich. Das Machtmonopol erhebt den Staat zum „Garanten der Rechtssicherheit“. Über die Eigentumsordnung und rechtliche Vorschriften sichert er ein möglichst friedliches und von allen im Grundsatz akzeptiertes Zusammenleben. Staatliche Rechtsnormen entstehen jedoch häufig erst als Reaktion auf Probleme. Umweltschädigungen, Gentechnologie und die Digitalisierung geben Beispiele. Teilweise hindert auch ein enger Anwendungsbereich eine Ausweitung auf neue Konfliktfelder.

Vertragliche Absprachen können Rechte und Pflichten im Sinne von Leistung und Gegenleistung konkreter und situativ angemessener regeln. Allerdings bleibt bei privatautonomen Verträgen der Schutz Dritter (Kosten­externalisierung zu Lasten Unbeteiligter) außen vor, und nicht jede zukünftige Situation läßt sich vertraglich im vorhinein regeln. Gerade in diesen Fällen entfaltet die „Goldene Regel“ ihre Nützlichkeit.

Sie ist allgemein anwendbar, flexibel und wichtig bei einer asymmetrischen, das heißt ungleichmäßigen Informationsverteilung. Sie schafft Vertrauen. Ein Beispiel bietet die ärztliche Dienstleistung, die neben Vertrag und gesetzlicher Haftung auch das ärztliche Ethos beinhaltet. Allgemein gilt sie als Generalklausel für verantwortungsvolles Handeln bei begrenztem Wissen, bei Unsicherheit und dem Vorstoß ins Neuland. Die Haftung wird zum Ersatzgewissen bei fehlendem Ethos. Insofern ist Ethik zugleich Ordnungspolitik im Sinne verhaltenssteuernder Normen – selbst beim Sitzplatzangebot im Bus.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.