© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Pankraz,
der Eingeweidefisch und die Seegurken

Interessant zu beobachten: Die Biologie erobert die Soziologie. Man könnte auch sagen: Die Seegurke überwältigt Karl Marx. Einst als Hilfsdisziplin für die klassische Wirtschaftswissenschaft à la Adam Smith und für die Staatslehre à la Machiavelli etabliert, erschöpfte sie sich bisher im Hinundherwenden und im Pazifizieren der altbekannten Marxschen Klassenkampfbegriffe, doch neuerdings herrscht plötzlich ein ganz anderer Ton. Moderne Soziologen wollen die Dinge nicht mehr sozial, sondern nur noch biologisch sehen, „biozönotisch“, wie der neue Fachausdruck heißt.

Biozönose – das ist nicht einmal mehr dem Tierreich zugewandt, zu dem der Mensch doch, rein biologisch betrachtet, viel eher gehört als zum Reich der Pflanzen, Pilze und Mikroben. Aber genau dort soll die Soziologie künftig ihre Anleitung und ihre Themen finden: im „Biotop“ der Bäume, Pilze und Mikroben, wo sich die verschiedensten Arten, statt sich gegenseitig aufzufressen, angeblich nur helfend unter die Arme greifen, um so das Überleben der Individuen oder zumindest der eigenen Art abzusichern.

Pankraz kann zwar Verständnis für die Sehnsucht der Soziologen aufbringen, ihr Fach durch Flucht unter die Flügel der Biozönose vor längst fälliger Generalkritik abzusichern, hält das ganze Unternehmen aber – man muß es so kräftig ausdrücken – für durch und durch verlogen und komplett realitätsfern. Das „survival of the fittest“, das laut Darwin die Entwicklung des Lebens bestimmt, schließt natürliche Formen der Symbiose, also des dauerhaften Zusammen-, Miteinander- und Voneinanderlebens, keineswegs aus, bedingt sie vielmehr und setzt sie in Gang.


Man denke nur an das Phänomen des Parasitismus, der wohl häufigsten Form von Symbiosen des Lebens! Selbst wenn der von Parasiten Befallene die ewige Aussaugerei aushält, bedeutet das ja noch lange nicht, daß sie ihm nützt. Und selbst im Falle der Biozönose, bei der beide Seiten gleichermaßen von der Symbiose „profitieren“, etwas fürs eigene Überleben oder das der eigenen Art, läßt sich – nach allem, was wir wissen – jeder Hauch von Altruismus  ausschließen. Ohne Mensch und Gott kein Mitleid. „Wenn ich sterbe, weint mein Hündchen nur um sich selber“ (Schopenhauer).

Die Abwesenheit jeglicher Moral und Transzendalität verleiht dem Phänomen der Biozönose etwas Grauenhaftes. Viele Biologen, vor allem Meeresbiologen, fragen sich bänglich, wie lange das noch gutgehen wird. Die Erforschung mittlerer Meerestiefen dreht sich ja, seit Jahren nun schon, fast nur noch um die Biozönose zwischen Seegurke und Eingeweidefisch, und was dabei herauskommt, ist keineswegs beruhigend, signalisiert im Gegenteil Alarmstufe eins und müßte allmählich auch die so sehr auf Biotop versessenen Soziologen aufschrecken.

Es wird den Forschern nämlich immer klarer, daß Seegurke und Eingeweidefisch dabei sind, sich vor lauter gegenseitiger Hilfsbereitschaft regelrecht auszurotten, obwohl es zur Zeit noch Tausende von Unterarten gibt. Die Seegurke (auch Seewalze genannt) aus dem uralten und gewaltigen Stamm der Stachelhäuter, zu dem auch der schöne Seestern zählt, besteht, so scheint’s, nur noch aus einer Haut, durch die Blut pulst. Sonst ist sie ein leerer Schlauch mit einer Öffnung an beiden Enden, wo Wasser herein- und hinausströmen kann, Nahrung, gewesene Nahrung, Abfall, sonstiges Getier.

Aber in jede (?) Seegurke hat sich ein sogenannter Eingeweidefisch (carapida) einquartiert und sorgt gewissermaßen für Ordnung. Niemand weiß, wie diese Fische aussahen, als sie sich irgendwann in der Erdgeschichte zum ersten Mal in eine Seegurke einnisteten. Heute jedenfalls sehen sie alle gleich aus, und alle sehen wie eine noch unentwickelte Seegurke aus: ein Schlauch, mit einer Art Kopf am Eingang und einer Art After am Ausgang. Sie sind schuppenlos und oft transparent, mit kaum erkennbaren Flossen, dafür nur einem feinen Saum auf der Rückenseite, so wie eben bei manchen der bewohnten Seegurken auch.


Nicht einmal die mit feinsten Gerätschaften ausgerüsteten Experimentatoren in den Versuchslabors vermögen stets präzise anzugeben, wer die hereinströmenden Nahrungspartikel nun als erster wahrnimmt und den Verdauungsorganen zuleitet: die dicke Haut der Seegurke vom Stamme der Stachelhäuter oder der möglicherweise noch intakte Magen-Darm-Trakt des Wirbeltiers Eingeweidefisch. Einzig was das Fortpflanzungsverfahren angeht, scheinen treffende Voraussagen noch möglich: Die Seegurke gebiert noch kleine Seegurken und der Fisch kleine Fische; beide werden durch den Hintereingang entlassen.

„Was willst du denn also?“ fragte leicht amüsiert ein Kollege, ein gelernter und enthusiastischer Unterwasserspezialist, dem Pankraz das alles erzählt hatte. „Alles geht doch seinen natürlichen Gang. Der kleine Eingeweidefisch wird eine eigene kleine Seegurke finden, und beide werden dank ihrer Biozönose eine Menge Kinder haben.“ Und dann erzählte er von seinen eigenen Beobachtungen. „Du kannst dir keine Vorstellung machen von den ungeheuren, milliardenschweren Mengen von Seegurken, denen du als Forscher in den Meeren begegnest.“

„Nun, die Herrschaft über die Welt werden sie trotzdem nicht erringen, „dazu sind sie viel zu dämlich“, fügte er nach einer Pause hinzu. Es sollte wohl eine Art Trostpflaster sein. Dabei dachte Pankraz im Augenblick gar nicht an Seegurken, vielmehr an moderne Soziologen und ihre neue Sehnsucht nach optimalen Biotopen. Vielleicht, überlegte er, sollte man weniger über Seegurken reden und – wie früher – mehr von ihnen verspeisen.

Noch vor gar nicht langer Zeit war es ja in den wärmeren Ländern üblich, vom Meer angespülte Seegurken einzusammeln und zu vielen schmackhaften Gerichten zu verarbeiten. Dabei soll man sich laszive Geschichten über den Eingeweidefisch „Octavio“ erzählt und daran erinnert haben, daß die Italiener einst die Seegurke frecherweise cazzo di mare, also „Meer-Penis“ genannt hätten.