© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Zu Staatsfeinden gestempelt
Ungarnaufstand 1956: „Das schweigende Klassenzimmer“ im Kino
Christian Dorn

Kompromißlos für die erkannte Wahrheit einstehen – diese Eigenschaft verbindet die künstlerische Arbeit des Regisseurs Lars Kraume mit dem idealistischen Bekenntnis zur Freiheit bei einer Abiturklasse der DDR im Jahr 1956. Seine Haltung demonstrierte Kraume bereits mit seinen Fernsehfilmen „Guten Morgen, Herr Grothe“, der schonungslos die Situation an den deutschen Hauptschulen darstellte und darob zur „Pflichtlektüre“ für Lehramtsstudenten erklärt wurde, sowie „Terror – Ihr Urteil“, in dem Zuschauer die Richterrolle einnahmen.

Ebenso fesselnd waren die Tragikomödie „Familienfest“ oder das NS-Aufarbeitungsdrama „Der Staat gegen Fritz Bauer“. In unerhörtem Maße aufklärerisch wirkte die Folge „Die schützende Hand“ der Krimiserie „Dengler“ (Ronald Zehrfeld) von 2017, die die offiziöse Darstellung des NSU-Selbstmordes überzeugend dekonstruierte, wofür Kraume von FAZ über Zeit bis Deutschlandfunk der Verbreitung von Verschwörungstheorien bezichtigt wurde – hatte er doch damit jene Analyse geleistet, der sich die maßgeblichen Medien bis heute verweigern.

War es da ein staatspolitischer Abwehrreflex, ist es jetzt – so im Tagesspiegel – eine filmästhetische Begründung, Kraumes jüngsten Film als „Flop“ zu deklarieren: Die Gesichter seiner Figuren seien „zu strahlend“, die Frisuren „zu schön“ und die Oldtimer „zu poliert“, „als daß man diese Kalte-Kriegs-Geschichte glauben möchte“. In der Tat unterscheiden sich diese Faktoren etwa vom Oscar-Gewinner „Das Leben der anderen“. Gleichwohl beruht die von Kraume verfilmte Geschichte auf einer realen, an ein Wunder grenzenden Begebenheit: Am 29. Oktober 1956 legte eine Abiturklasse in Storkow spontan eine Schweigeminute ein – als Protest und im Gedenken an die beim Ungarischen Volksaufstand getöteten Freiheitskämpfer. Es traf den Geschichtslehrer Werner Mogel, der die Schüler nach der vorrevolutionären Situation 1918 in Deutschland abfragte – und von den angesprochenen Schülern fünf Minuten lang keine Antwort erhielt, selbst von denen nicht, die das Vorhaben gar nicht mitbekommen hatten, sich aber instinktiv am Verhalten ihrer schweigenden Mitschüler orientierten.

Ein Großteil der Schüler floh in den Westen

Aufgrund einer Denunziation reiste Volksbildungsminister Fritz Lange (Burghart Klaußner) persönlich an, um die Schüler zur Preisgabe des „Rädelsführers“ zu zwingen und die sich anbahnende „Konterrevolution“ niederzuschlagen. Da die Klasse sich weigerte, den Anführer zu benennen, den es im eigentlichen Sinne gar nicht gab, wurde ihr gedroht, sie kollektiv vom Abitur auszuschließen. Als schließlich einer der Initiatoren, der Schüler Dietrich Garstka, in den Westen flüchtete und der Klasse die Gelegenheit geboten wurde, die Verantwortung auf den „Republikflüchtling“ abzuwälzen, solidarisierten sich die des „Individualismus“ verdächtigten Klassenkameraden abermals und traten als „Kollektiv“ dem Staat entgegen – wofür sie augenblicklich vom Abitur in der ganzen DDR ausgeschlossen wurden. Danach floh der Großteil der Schüler in den Westen, wo er zusammen das Abitur ablegte.

Obwohl damals eine internationale Nachricht, geriet die Geschichte des „Klassenzimmers“, das von der Schule fliegt, in Vergessenheit – bis Dietrich Garstka diese minutiös rekonstruierte. Den Titel seines Buches „Das schweigende Klassenzimmer“ übernahm Regisseur Kraume, der allerdings die Handlung nach Stalinstadt verlegte und die Figuren der Schülerschaft verfremdete, wodurch ihm eine ungeheure dramaturgische Zuspitzung gelingt.

Ausschlaggebend für die emotionale Überzeugungskraft des Films ist das wirklich exzellente Schauspielerensemble, das die Charaktere und Konflikte der einzelnen Figuren bestechend verkörpert: so Florian Lukas als Direktor, Michael Gwisdek als Onkel Edgar („Ihr seid jetzt Staatsfeinde, weil ihr ‘falsch’ gedacht habt“), Roland Zehrfeld als besorgter Familienvater oder Jördis Triebel als teuflische SED-Funktionärin – nicht zuletzt die Jungschauspieler Leonard Schleicher, Tom Gramenz, Lena Klenke und Jonas Dassler, um nur einige zu nennen, deren Präsenz sie bereits jetzt als kommende Schauspielgrößen ausweist.

Die politisch-korrekte Berlinale-Jury hielt diesen brillant inszenierten „Historienfilm“ zwar für nicht wettbewerbsfähig, doch anders als beim Goldenen-Bären-Sieger, dem künstlerisch mißlungenen experimentellen Erstlingsfilm „Touch me not“, vor dem zahlreiche Pressevertreter Reißaus nahmen, zeigten sich die Zuschauer von Kraumes Film tatsächlich „angefaßt“.

Dietrich Garstka: Das schweigende Klassenzimmer. Ullstein, Berlin 2018, broschiert, 272 Seiten, 12 Euro