© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Überlegungen zur Zukunft der EU
Auf dem Weg ins Imperium?
Anton Friesen

Die Kunst der Camouflage gibt es nicht nur beim Militär. Als es am 22. Januar im Bundestag zur Debatte über den von der ganz großen Koalition (CDU/CSU, SPD, FDP sowie Bündnis 90/Die Grünen) vorgeschlagenen neuen Élysée-Vertrag kam, ging es um viel mehr als um eine vorgebliche Erneuerung dieses Werks der deutsch-französischen Freundschaft. Es ging um einen Meilenstein auf dem Weg in den europäischen Superstaat. Deutschland und Frankreich sollten sich (mal wieder) verpflichten, die EU-Integration voranzutreiben.

Zahlreiche Ideen der denkwürdigen Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, welche er am 26. September 2017, gerade zwei Tage nach der Bundestagswahl, hielt, fanden Eingang in den vom Altparteienkartell eingebrachten Antrag – unter anderem die „Weiterentwicklung und Stabilisierung der Wirtschafts- und Währungsunion“, also, anders ausgedrückt, der Weg zur Wirtschaftsregierung mit einem gemeinsamen Haushalt und einer gemeinsamen (Schulden-)Haftung. Macron forderte bekanntlich eine „europäische Souveränität“ – und damit die Vereinigten Staaten von Europa (vgl. Dieter Grimm: „Ein souveränes Eu­ropa?“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2017). Ein paar Monate nach Macron sprang übrigens der gescheiterte sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz auf denselben Zug auf und sprach von der Notwendigkeit, einen Bundesstaat Europa bis 2025 zu schaffen. Abseits der tagespolitischen Scharmützel stellt sich damit die Frage nach dem großen Schlachtplan: Welche Zukunft erwartet die EU? Imperium oder Zerfall? Oder gibt es gar noch andere Alternativen?

Für David Engels, Althistoriker an der Freien Universität Brüssel, ist die Sache klar: Die Europäische Union befindet sich längst auf dem Weg ins Imperium (vgl. David Engels: „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen“, Berlin/München 2014). Ausgehend von der zyklischen Geschichtstheorie stellt Engels die Prognose auf, daß der EU das Schicksal der Römischen Republik drohe: geschwächt durch demographischen Niedergang, massive „barbarische“ Zuwanderung von außen, eine sich verschärfende Identitätskrise sowie eine sich perpetuierende Wirtschaftskrise und die Erosion der demokratischen Ordnung und des Rechtsstaates, wird der Ruf nach autoritärer Führung immer lauter.

Diese Krisenerscheinungen sowohl ihrer Mitgliedstaaten als auch der EU selbst, so Engels, münden letztlich in einer Transformation des demokratischen Systems in eine „sanfte Autokratie“: die Bürger geben – freiwillig – ihre Freiheiten auf, um (kulturelle, soziale und öffentliche) Sicherheit zu erlangen und die abgehobenen, technokratischen Eliten einer Ordnung zu zügeln, die immer mehr einer Oligarchie mit demokratischem Antlitz gleicht. Geschichte wiederholt sich doch: Aus der Asche der bürgerkriegszerrütteten Römischen Republik wurde das Imperium Romanum, und aus der Europäischen Union mitsamt ihrer Mitgliedstaaten wird eine imperiale Ordnung, welche den Untergang des Abendlandes wenigstens noch ein paar Jahrhunderte aufhalten wird.

Ein Zerfall der EU steht nicht zu befürchten: wegen der den Institutionen eigenen Langlebigkeit, aber auch der Interessen vor allem der kleinen EU-Staaten. Diese Staaten hätten bei einem Zerfallsszenario viel mehr zu verlieren als nur die EU-Subventionen.

Jan Zielonka, Professor für Europäische Politik an der Universität von Oxford, widerspricht: Nein, die EU sei nicht auf dem Weg ins Imperium. Imperium und Zerfall seien Scheinalternativen. Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa würden, so sie denn ihre Worte in die Tat umzusetzen versuchen, genau das Gegenteil dessen erreichen, was sie erstreben: Während manche EU-Staaten fürchten würden, ausgeschlossen zu werden, würden andere Angst vor einer sich (gegenüber der heutigen Lage) noch verschärfenden Hegemonie des deutsch-französischen Machtkartells bekommen.

Auch ein Zerfall stehe nicht zu befürchten: wegen der den Institutionen eigenen Langlebigkeit, aber auch der Interessen vor allem der kleinen EU-Staaten. Es mag vielen in Deutschland nicht klar sein – aber der durchschnittliche EU-Staat hat nur 18 Millionen Einwohner. Diese Staaten hätten bei einem Zerfallsszenario viel mehr zu verlieren als „nur“ die EU-Subventionen. Sie müßten, so Zielonka, befürchten, zwischen den Weltmächten USA, China und Rußland zerrieben und – aus ihrer Wahrnehmung heraus – Opfer deutscher Dominanz zu werden.

Zielonka schreibt: „Botschafter europäischer Staaten würden nach Berlin aufbrechen, um deutsche finanzielle Unterstützung zu erhalten, deutsche Vermittlung in Konflikten zu bekommen und um deutsche Hilfe gegen ‘heimische Unruhestifter’ zu werben. Der Zusammenbruch des Euro würde dazu führen, daß mehrere Staaten ihre nationalen Währungen an die Deutsche Mark binden – was nur zu einer Stärkung der deutschen ökonomischen Position führen würde (…) Deutschland würde, im Ergebnis, zu einem neuen imperialen Zentrum werden“ (vgl. Jan Zielonka: „Is the EU Doomed?“ Cambridge, UK; Malden, MA (USA) 2014).

Doch genau das wird, so Zielonka, weder von den kleineren Mitgliedstaaten gewünscht, noch hätte Deutschland bislang mit seiner Politik genügend politischen Willen zur imperialen Führung gezeigt – ausgedrückt in der Zurverfügungstellung deutscher Wirtschaftshilfe –, um die Zustimmung der EU-Peripherie zu erhalten beziehungsweise erst zu gewinnen. Die derzeitige deutsche Politik führe weder zu Sicherheit (man denke an das Mißmanagement der Migrationskrise) noch zu Wohlstand an den Rändern der EU. Während das Zerfallsszenario also zu einer nochmaligen Stärkung der deutschen Hegemonie führen würde, ist es also gerade aus diesem Grunde unwahrscheinlich, daß es eintritt.

Wenn uns also weder Skylla noch Charybdis, weder Imperium noch Zerfall droht – was ist dann das wahrscheinliche Entwicklungsszenario der EU?

Nach Zielonka eine Rückkehr ins Mittelalter. Was zunächst ein wenig seltsam klingt, wird durchaus plausibel, wenn man es en détail betrachtet. Ein „neo-mediävistisches“ Europa würde sich durch eine Pluralität der Akteure (wirtschaftlich starke Metropolen und Regionen machen kleinen EU-Staaten Konkurrenz) und funktionale, polyzentrische Integration auszeichnen. Zielonka skizziert eine neue institutionelle Architektur der Europäischen Union. In Zukunft sind die zentralen Institutionen der EU wie die Kommission, der Europäische Rat und das EU-Parlament noch da, aber sie sind geschwächt und ihre Rolle wandelt sich: Die EU-Kommission wird zu einer Art regulatorischer Großbehörde für den gemeinsamen Markt, während die zahlreichen EU-Agenturen (Stand Februar 2017 waren es mehr als 45) „ihre“ Politikfelder in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen regeln. Die Rechtssetzung erfolgt also dezentral, während der Europäische Rat zu einer Art „Akkreditierungsinstanz“ für die Agenturen schrumpft: Er kümmert sich um Transparenz, Rechenschaft und gleiche Teilhabe aller Bürger. Das Scheinparlament der EU mutiert währenddessen zu einer „Beobachtungsstelle“, die ein kritisches Auge auf das Agieren der Agenturen wirft.

Was ist das gemeinsame Band, wenn die Regionen an Macht gewinnen? Ein neo-mediävistisches Europa wäre für äußere Mächte wie China und Rußland geradezu eine Einladung, die winzigen europäischen Städte und Regionen gegeneinander auszuspielen.

Das, was Zielonka nicht nur als wahrscheinlich, sondern auch als wünschenswert vorschwebt, ist nichts anderes als der Weg in eine wohlfeil verpackte Technokratie. Wie können die Bürger die zahlreichen Agenturen, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen kontrollieren? Was ist das „gemeinsame Band“, wenn die Nationalstaaten zunehmend an Macht verlieren und die Regionen, Städte und Agenturen zunehmend an Gestaltungskraft dazugewinnen? Werden sich die Bürger dann eben mit ihrer Region oder Stadt identifizieren? Wird die Republik Venedig „auferstehen“ und ein unabhängiges Katalonien fröhliche Urständ feiern?

Und schließlich: Ein neo-mediävistisches Europa wäre für äußere Mächte wie China, Rußland und die Vereinigten Staaten von Amerika geradezu eine Einladung, die winzigen europäischen Städte und Regionen gegeneinander auszuspielen. Europa würde vollends zu einem „kollektiven Freizeitpark“ (Helmut Kohl), den ein paar chinesische Touristen besuchen, die sich in den Gassen der europäischen Unübersichtlichkeit verlieren.

Wie könnte ein Europa der Zukunft aussehen, das weder ein Imperium noch ein Flickenteppich neo-mittelalterlicher Flecken ist? Ein Nord-Euro der starken Nordeuropäer (unter anderem Niederlande, Finnland, Deutschland, Österreich) in Verbund mit einer Freihandelszone mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (Russische Föderation, Weißrußland und andere) würde mit mehr als 300 Millionen Einwohnern und einem gemeinsamen Raum der Sicherheit weltpolitisch eine große Rolle spielen, ohne im Inneren auseinandergerissen zu werden. Die Ressourcen Eurasiens würden diesem Nord-Eu­ropa zugute kommen, während die nordeuropäische Technologie und das Know-how in die Wachstumsmärkte der Eurasischen Wirtschaftsunion exportiert werden würden.

Vor der Zuwanderung muslimischer Massen über den zunehmend instabilen Süden (Griechenland, Italien, Frankreich) würde eine Art Limes, eine Grenzmauer, schützen – eine Vision, die übrigens bereits seit Jahren in der Fachwelt diskutiert wird (vgl. Andreas Rinke / Christian Schwägerl: „11 drohende Kriege. Künftige Konflikte um Technologien, Rohstoffe, Territorien und Nahrung“, München, aktualisierte Neuausgabe Dezember 2015). Gleichzeitig würden die (süd-)osteuropäischen Staaten wie Ungarn nach wie vor eine wichtige ,,Türsteherfunktion“ erfüllen, wobei sie aber statt Belehrungen finanzielle und immaterielle Unterstützung Deutschlands für die Grenzsicherung erhalten. Weltpolitisch würde Rußland die instabile kaukasisch-asiatische Südflanke abdecken, während die vereinigten Grenztruppen Nord-Europas an der Grenzmauer für den Schutz des Abendlandes sorgen. Wirtschaftlich würde dieses Nord-Eu­ropa zudem von der zunehmend eisfreien Nordostpassage profitieren, die eine schnelle Verbindung zwischen Europa und Asien (Atlantik und Pazifik) über die Arktis schafft.

An einer solchen Vision lohnt es sich schon heute zu arbeiten. Denn die Zukunft kommt schneller als man denkt.





Dr. Anton Friesen, Jahrgang 1985, ist Bundestagsabgeordneter der AfD und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Der Politologe promovierte an der FU Berlin mit einer Arbeit über die US-Strategie im Afghanistankrieg. Er veröffentlichte zu Außen-, Sicherheits- und Geopolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Radikalisierung moslemischer Jugendlicher und mögliche Gegenmaßnahmen („Die Rückkehr der Dämonen“, JF 20/17).

Foto: Ein Europa mit Bruchlinien: Droht der EU das Schicksal der Römischen Republik? Sind wir auf dem Weg in eine sanfte Autokratie, die den Zerfall aufzuhalten verspricht? Oder wird Europa wieder ein Flickenteppich von Klein- und Stadtstaaten? Wäre darüber hinaus ein weiteres Szenario vorstellbar?