© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Demütigungen blieben erspart
Brest-Litowsk 1918: Über den Friedensvertrag im Osten wurde kritisch geurteilt – zu Recht?
Gerd Schultze-Rhonhof

Hundertste Jahrestage historischer Ereignisse erwecken Gewesenes für eine kurze Weile aus ihrem Dornröschenschlaf. Es erscheinen neue Bücher, Zeitungsartikel und Fernsehsendungen zum Thema. So geht es augenblicklich mit dem Vertrag von Brest-Litowsk, der in Wirklichkeit drei Verträge waren. So geht es dabei auch mit den meist erwähnten Annexionen russischer Gebiete durch Deutschland und vermeintlichen sechs Milliarden Mark Entschädigungen, die die Russen an die Deutschen zahlen mußten. Und es geht im hundertsten Gedenkjahr des Versailler Vertrages auch darum, daß der unbarmherzige Vertrag von Brest-Litowsk die Vorlage für die Unbarmherzigkeiten des Vertrages von Versailles gewesen sein soll.

Sowjets war die Revolution wichtiger als der Staat

Im Ersten Weltkrieg befanden sich Deutschland und Österreich-Ungarn als sogenannte Mittelmächte in der Zange der Entente-Mächte, zwischen England und Frankreich im Westen und Rußland im Osten. Ende 1917 brach das zaristische Rußland infolge militärischer und industrieller Unterlegenheit und wegen der Revolution im Land zusammen. Aus der russischen Armee waren fast zwei Millionen Soldaten desertiert und Finnland, die baltischen Länder, Polen, Weißrußland, die Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbaidschan erklärten im Lauf der Monate ihre Unabhängigkeit und gingen Rußland „von der Fahne“. 

In dieser hoffnungslosen Lage beschloß die durch ihre Revolution frisch an die Macht gekommene sowjetische Regierung, den Krieg mit den Mittelmächten in einem Frieden zu beenden, um wenigstens die Revolution in Rußland zu retten. Den Sowjets war zu der Zeit die Revolution wichtiger als der Bestand des Staates. Sie schlugen dabei gleich ihre Friedensbedingungen vor: „den gegenseitigen Verzicht auf Annexionen und Reparationen und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker“. So kam Anfang Dezember 1917 der 1. Waffenstillstand zwischen Rußland und den Mittelmächten mit siebentägiger Kündigungsfrist zustande, dem ab dem 20. Dezember der Beginn der Friedensverhandlungen in Brest-Litwosk folgte.

Zur selben Zeit kam auch die Westfront der Mittelmächte unter Druck. Im Herbst 1917 hatten deutsche Truppen ihre Not, sich im Stellungskrieg in Flandern gegen britisch-französische Großangriffe zu behaupten. Deutschland mußte Truppen und Waffen an die verbündeten Länder Österreich, Osmanisches Reich und Bulgarien abstellen, um dortige Niederlagen zu verhindern und Getreide liefern, um Hungersnöte abzuwenden. Die Kriegserklärung der USA vom April an Deutschland würde mit frischen Truppen in Frankreich auch bald Wirkung zeigen. So standen Deutschland und Österreich unter großem Zeitdruck, um den Krieg noch zu gewinnen. Das wußte zu der Zeit auch die sowjetische Regierung. Der einzige Lichtblick für die Mittelmächte war im Herbst 1917 ihr Sieg in Oberitalien, wo es gelang, die Italiener um hundert Kilometer nach Westen abzudrängen (JF 43/17). 

Am 22. Dezember 1917 begannen Deutsche und Russen in der Stadt am Bug den Frieden auszuhandeln. Man sprach auf gleicher Augenhöhe miteinander, da Rußland bislang formal noch unbesiegt war. Grundlage der Verhandlungen war der russische Vorschlag, gegenseitig auf Annexionen und Kontributionen zu verzichten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker anzuerkennen und daß die deutschen Truppen die besetzten Gebiete räumen sollten. Streitpunkte waren trotzdem die zwei erstgenannten Punkte, die Deutschland jedoch akzeptierte. 

Aber die sowjetische Delegation ordnete das Selbstbestimmungsrecht nun den Interessen der kommunistischen Weltrevolution unter und bezeichnete die Unabhängigkeit ihrer inzwischen abgespaltenen Völker als „Annexionen“. Annexionen sind nach deutschem Verständnis aber „gewaltsame Gebietserwerbe eines Staates auf Kosten eines anderen“. Deutschland forderte aber kein erobertes Land für sich. Da die Sowjets den Frieden nicht mit so hohen Gebietsverlusten bezahlen wollten, und sie überdies noch hofften, daß Deutschland bald an der Westfront in die Knie gehen und seine eigene Revolution erleben würde, womit Rußland diesem teuren Frieden dann entgehen könnte, zogen sie das Verhandeln in die Länge. 

Die Deutschen hingegen wollten zu einem raschen Abschluß kommen, weil sie ihre Truppen aus Rußland abziehen und an die Westfront schaffen wollten. Außerdem hatten sie Polen schon 1916 seine Selbständigkeit garantiert, und sie wollten die Ukraine, die gerade selbst ihre Unabhängig erklärt hatte, nicht als einen von Rußland unabhängigen Handelspartner und Getreidelieferanten verlieren. Die deutsch-österreichische Delegation stand also zeitlich unter Druck. So kündigte der deutsche Verhandlungsführer den Waffenstillstand. Am 18. Februar 1918 trat die deutsche Truppe erneut zum Angriff an. Sie rückte ohne nennenswerten Widerstand im Norden durch Estland und Livland, in der Mitte um etwa 100 Kilometer und im Süden 800 Kilometer durch die ganze Ukraine nach Osten vor.

Vermeintliche Reparationen waren auch alte Schulden

Zum Ärger der sowjetischen Regierung war auch noch eine Delegation der nun unabhängigen ukrainischen Regierung im deutschen Hauptquartier in Brest-Litowsk erschienen und hatte um einen separaten Frieden nachgesucht. So entstand am 9. Februar der erste von zwei Brest-Litowsker Frieden, wegen der vereinbarten Lebensmittellieferungen aus der Ukraine auch „Brotfrieden“ genannte. Sein Inhalt in 10 Artikeln: Frieden und Freundschaft, Grenzfestlegung zwischen der Ukraine und Österreich-Ungarn, Rückzug der deutschen Truppen, gegenseitiger Verzicht auf Kriegskosten und zukünftige wirtschaftliche Beziehungen. 

Nun sah die sowjetische Regierung ihre Felle davonschwimmen, kehrte nach Brest-Litowsk zurück und unterzeichnete am 3. März 1918 ohne weitere Verhandlungen den zweiten Friedensvertrag, „um der Revolution eine Atempause zu verschaffen“. Der Inhalt in 14 Artikeln: Frieden und Freundschaft, Abtretung polnischen Staatsgebiets, Räumung des Gebiets östlich davon durch deutsche Truppen nach der völligen Demobilisierung russischer Truppen und Revolutionsgarden, Räumung der besetzten türkischen Gebiete durch russische Truppen, Verpflichtung Rußlands, die Ukraine anzuerkennen und mit ihr Frieden zu schließen, Räumung der Ukraine durch russische Truppen, neue Grenzen zwischen Rußland, Estland und Livland, Stationierung deutscher Polizei in Estland und Livland, bis beide Staaten eigene Sicherheitskräfte aufgebaut hatten, die beiderseitige Entlassung von Kriegsgefangenen und der gegenseitige Verzicht auf Erstattung von Kriegskosten.  

Schmerzlich für die Russen war allerdings die Selbständigkeit der Polen, Finnen, Ukrainer, Esten und Livländer. Aber die Kernlande mit russischer Bevölkerung blieben unangetastet. Es gab auch keine Abrüstungsauflagen für die russische Flotte und das Heer. Deutschland ging die Pflicht ein, seine Truppen aus Weißrußland abzuziehen.

Woher kommt dann die Legende von den Annexionen und den 6 Milliarden Goldmark an Reparationen, die Rußland zahlen sollte? Das erstere entspringt der anschließenden sowjetischen Propaganda, die bei ihrer Behauptung der Annexion geblieben ist und den Vertrag sofort als Schand- und Raubvertrag bezeichnet hat, was linke Medien und Autoren in Deutschland bis heute kolportieren. Das letztere stammt aus späteren Ergänzungsverträgen und einem anderen Zusammenhang.

Im Nachgang zum zweiten Vertag von Brest-Litowsk schlossen die sowjetische und die deutsche Regierung am 27. August Ergänzungsverträge, die meist als ein Vertrag behandelt werden. Sie wurden zwar in Berlin unterzeichnet, aber weil sie den zweiten Vertrag von Brest-Litowsk ergänzen und ihm fast immer fälschlicherweise mit den berüchtigten sechs Milliarden als Reparation zugeordnet werden, könnte man ihn auch als den dritten Vertrag von Brest-Litowsk bezeichnen.

In diesen Ergänzungsverträgen verzichtete Rußland offiziell auf Estland, Litauen und Georgien. Und Deutschland sagte zu, seine Truppen aus Weißrußland abzuziehen. Wichtig ist dabei ein Finanzabkommen zur Verrechnung russischer staatlicher und privater Vorkriegs- und Nachkriegsschulden mit den entsprechenden deutschen Verbindlichkeiten. Rußlands derartige Schulden beliefen sich auf 1,5 Milliarden Goldmark für alte Staatsanleihen, 0,25 Milliarden für Aktien und Zinsen, 1,5 Milliarden für Aufwendungen für russische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam und 4 Milliarden als Ersatz für Enteignungen von deutschem Privatbesitz in Rußland nach der bolschewistischen Revolution. Zusammen 7,25 Milliarden Goldmark. Gegengerechnet wurden russische Forderungen für 1,25 Milliarden Mark. Damit blieben per Saldo sechs Milliarden Goldmark zugunsten Deutschlands. Kriegsentschädigungen waren dezidiert nicht Gegenstand dieses Abkommens.