© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Die abgewälzte Verantwortung
Im von Vichy-Frankreich kontrollierten Algerien wurden nach 1940 Juden verfolgt / Deutschland zahlt jedoch nun die Entschädigung
Stefan Scheil

Im Frühjahr 2017 gab es ein politisches Erdbeben. Die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen hatte auf einer Pressekonferenz die Ansicht vertreten, die Verantwortung für französische Judenverfolgungen während des Zweiten Weltkriegs sei bei den damaligen Behörden des französischen Vichy-Regimes von Marschall Pétain zu suchen, nicht bei der französischen Nation selbst. Vorwürfe bis hin zur Holocaustleugnung standen umgehend im Raum. Die französische Kollektivverantwortung für die Judenverfolgung auf dem Staatsgebiet der Republik stehe außer Frage, hieß es allerorten und auch aus Jerusalem. 

Etwa ein Jahr später kam Anfang Februar 2018 die Meldung der Jewish Claims Conference, daß die 1940 bis 1942 im damals französischen Algerien residierenden und teils heute noch dort lebenden Juden wegen der Verfolgungsmaßnahmen des Vichy-Regimes tatsächlich eine Entschädigung zu erwarten hätten. Sie solle etwa 2.600 Euro betragen. Bezahlen würde das allerdings nicht die französische Republik, sondern die Bundesrepublik Deutschland. Letztlich sei für alle antijüdischen Maßnahmen in Europa und den europäisch kontrollierten Gebieten in der Kriegszeit der Nationalsozialismus verantwortlich. Für Wiedergutmachungszahlungen sei daher nun einmal die Bundesrepublik die richtige Adresse.

Algerische Juden verloren unter Pétain ihren Status

Erstaunlicherweise wurde in der Berichterstattung der großen Printmedien durchgängig nicht bestritten, daß die Diskriminierungsmaßnahmen der Regierung Pétain gegen Juden in Nordafrika ein französischer Einfall waren. Sie geschahen nicht auf Initiative deutscher Stellen. Zum Teil waren sie statt dessen von den traditionellen Schwierigkeiten geprägt, die französische Behörden überhaupt mit der Einordnung des nord-afrikanischen Kolonialbesitzes hatten. Gern betrachtete man ihn auf der Karte als Teil Frankreichs. Noch Charles de Gaulle sollte sich später als Präsident auf den Standpunkt stellen, das Mittelmeer sei eigentlich nur ein breiter Fluß, eben mitten durch Frankreich. 

Wer das ernst nehmen wollte, mußte die Algerier im Grunde sämtlich zu französischen Staatsbürgern machen. Davor jedoch schreckte die französische Republik zurück, wenn auch nicht ohne eine Ausnahme zu machen. In Algerien lebende Juden bekamen die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt, in einem so bezeichneten „Décret Crémieux“. Das geschah noch während des laufenden französisch-deutschen Krieges im November 1870, sozusagen als eine der ersten Amtshandlungen der neuen Republik. 

Dieses Décret schaffte der französische „Staat“ von Philippe Pétain nun im Oktober 1940 ab, ebenso wie er selbst auf die weitere Bezeichnung als „Republik“ verzichtete. Pétains Regierung war vom frei gewählten französischen Vorkriegsparlament in den Wirren der Kriegsniederlage ins Amt gehoben worden und daher zu dieser Zeit bis nach Washington hin problemlos diplomatisch anerkannt. Als eigentümliche Form legaler Konterrevolution suchte sie aber den Bruch mit vielen Gewohnheiten der französischen Innenpolitik der letzten Jahrzehnte. 

Wenn sie sonst keine Beziehung zu Frankreich hatten, wurden Juden in Algerien von der Vichy-Regierung rechtlich den dort lebenden Muslimen gleichgestellt, denen die Staatsangehörigkeit zu jeder Zeit verweigert worden war. Darüber hinaus wurden jüdische Soldaten, die in der Armee des französischen „Staates“ gedient hatten, im Internierungslager Bedeau inhaftiert. Jüdische Kinder konnten nicht länger öffentliche Schulen besuchen, durften aber weiterhin Kurse in katholischen Lehranstalten belegen. Für Berufe in Finanzwesen und Verwaltung und zahlreichen anderen Gewerben gab es ab sofort Quotierungen. Da Algerien anders als Tunesien und Marokko rechtlich als Teil Frankreichs galt, fanden die im „Statut des Juifs“ vom Oktober 1940 erlassenen Regelungen dort komplette Anwendung.

Antisemitismus gab es auch unabhängig von Besatzung

Insgesamt läßt sich die überwiegend binnenfranzösische Verantwortung für diese Vorgänge nicht ernsthaft bestreiten. Die Vichy-Regierung betonte ihre eigene Initiative in dieser Sache auch öffentlich und erließ zudem Maßnahmen, die über antijüdische Vorschriften im deutsch besetzten Teil Frankreichs hinausgingen. Frankreich stellte hier keinen Einzelfall dar. Generell wurde die Intensität antijüdischer Verfolgungsmaßnahmen im Europa der Kriegszeit in der Regel von der antisemitischen Tradition im jeweiligen Land erheblich mitbestimmt, nicht nur davon, ob das Land formal als Verbündeter oder unterlegener und besetzter Kriegsgegner deutschen Einflüssen unterlag. Dies ist seit etlichen Jahren ein Forschungsthema der Zeitgeschichte.

Nicht nur das Beispiel Le Pen, sondern auch die jetzt getroffenen bundesdeutschen Entschädigungsregelungen zeigen allerdings, wie wenig sogar klare geschichtswissenschaftliche Forschungsergebnisse an dem Mäandrieren politischer Verantwortung ändern können. Wobei weiterhin die Tendenz besteht, daß die folgende Übernahme finanzieller Verantwortung dann wieder wenig mäandriert, sondern relativ gerade auf Berlin zuläuft.