© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Alles wird verschwinden
Kino: Hollywoods berühmtester Nebendarsteller Harry Dean Stanton spielt sich selbst in „Lucky“
Sebastian Hennig

Harry Dean Stanton war der ungekrönte König der Nebendarsteller des amerikanischen Kinos. Ab seiner Mitwirkung an Alfred Hitchcocks „Der falsche Mann“ (1956) bis zu seinem Tode im September vorigen Jahres war er in der Belegschaft der Traumfabrik für Staffage mit glaubhaftem menschlichen Kolorit zuständig. Aus demselben Grund kam er wahrscheinlich für Hauptrollen nie richtig in Frage; seine bekannteste hatte er 1984  in Wim Wenders’ „Paris, Texas“. Immerhin durfte er zuletzt als eine Art Prämie für die längste Betriebszugehörigkeit 88 Minuten lang sich selbst spielen.

Als „Lucky“ steht Harry Dean Stanton nun im Mittelpunkt von John Carroll Lynchs (54) gleichnamigem Spielfilmdebüt. Regie-Kollege David Lynch, der mit jenem John Carroll nicht verwandt ist, spielt den elegischen Howard. Dessen hundertjährige Schildkröte mit dem Namen „President Roosevelt“ hat durch das offene Gartentor das Weite gesucht. Mit dieser Szene beginnt und endet der Film. Im Licht des  Sonnenaufgangs kriecht das stille Wesen über den dürren Boden.

Dann sehen wir Lucky beim erbärmlichen Morgenritual eines einsamen Greises. Er zieht an einer ersten Zigarette, während vor der Tür bereits die Hitze eines neuen Tages brodelt. Der begegnet er mit einem großen Eiskaffee. Halbherzig zelebriert er einige Relikte fernöstlicher Meditation, anschließend geht er in den Ort zur Imbißbude und in einen mexikanischen Kramladen. Im Vorübergehen zischt er ein unflätiges Wort zum Eingang eines Grundstücks. Erst später erfahren wir, daß es sich um einen Klub handelt, aus dem er vor Jahrzehnten wegen seines Verhaltens ausgeschlossen wurde. Der Nichtsnutz eilt davon, denn: „Ich muß los, meine Sendungen laufen.“ 

Das Drama des Filmes ist eine Burleske und beginnt damit, daß der alte Mann in seiner Wohnung eines Tages hinstürzt und sich fortan mit der Tatsache seiner Sterblichkeit zu arrangieren hat. Lucky erkennt: „Alles wird verschwinden und niemand ist zuständig.“

Auch Howard alias David Lynch reißt diese Erkenntnis eines Verlustes hin und er hebt zu einer Ode auf die vermißte Landschildkröte an. Es gibt im amerikanischen Kino Momente, wo in der konzentrierten Banalität eine mystische Erkenntnis aufzuglänzen scheint. Die Dialoge in Lucky gehören allerdings nicht dazu. Einzig die Stelle, bei der Lucky auf einer mexikanischen Fiesta mit dünner Stimme zu singen beginnt, ist etwas dringlicher, wenn auch so absichtsvoll inszeniert, daß dadurch viel von der Wirkung wieder vergeht.

Der letzte Auftritt gehört einer Schildkröte

Musiziert hat Stanton schon öfter auf der Leinwand. In „Der Unbeugsame“ (1967) mit Paul Newman ist er als singender Tramp zu erleben. Der 1926 Geborene diente während des Pazifikkrieges in der US Navy. Während der kleinen Episode eines Gesprächs unter Veteranen kommt er auch darauf zurück.

Daß der „hinreißende Klang des Amerikanischen“ (wie die Quartalszeitschrift Tumult einmal zutreffend titelte) erst in deutschen Ohren entsteht, zeigt auch die Synchronisation von „Lucky“. Zu den Pressevorstellungen lief die Originalfassung, während ein synchronisierter Trailer zum Film jenen hektischen und vitalen Modus aufwies, mit dem das deutsche Publikum den amerikanischen Lebensstil irrtümlich zu verbinden gewohnt ist. Doch statt abgeklärter Lebensweisheit ist bei genauer Beobachtung katatonisches Gebrabbel und statt lebensfroher Entäußerung ein tief verzweifeltes Pfeifen im Walde zu vernehmen. Im Prinzip handelt es sich beim amerikanischen Kino ziemlich exakt um den Abgrund, von dem Nietzsche gemeint hat, wenn man zu lange hineinschaue, dann blicke er in einen zurück. „Lucky“ ist nun die Abschiedsparty Hollywoods für den treuesten Kanalarbeiter dieser ausgestülpten Subkultur. 

Als Samuel Elias Brett ist er 1979 das erste Opfer des „Alien“, als er ein entlaufenes Kätzchen einzufangen sucht und dabei von einem mechanistischen Riesenreptil zerfetzt wird. Stanton tritt in Martin Scorsese „The Last Temptation of Christ“ neben Jesus (Willem Dafoe), Judas (Harvey Keitel) und Pilatus (David Bowie) als Paulus auf. In Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“ ist er kurz als Richter zu sehen. Die Zusammenarbeit mit David Lynch begann 1987 mit dem Kurzfilm „The Cowboy and the Frenchman“. Er war danach präsent in sechs Filmen des Regisseurs, der ihm nun als skurriler Schauspielpartner in „Lucky“ die Folie bietet, auf welcher er seine dürre Aura entfalten kann.

Filmkritiker Roger Egbert formulierte die Stanton-Walsh-Regel. Nach dieser könne ein Film, in dem einer von den beiden markantesten Nebendarstellern Hollywoods, Stanton oder Emmet Walsh, zu sehen sei, nicht ganz schlecht sein. Tatsächlich aber sind die Filme in der Regel so schlecht und verlogen, daß bereits ein treuherzig-vertrautes Gesicht den Verdruß etwas zu mildern in der Lage ist. In „Lucky“ ist der wichtigste Nebendarsteller die Schildkröte. Ihr gehört der letzte Auftritt.

Filmstart ist am 8. März.