© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Vom Homo oeconomicus zum Homo culturalis
Jenseits von Planwirtschaft und Liberalismus: Dem Nationalökonomen Hermann Schumacher zum 150. Geburtstag
Wolfgang Müller

Als der 2013 auf einen Lehrstuhl für Ökonomik an der Universität Siegen berufene Nils Goldschmidt auch den Vorsitz der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft übernahm, gab er dem Verein das Motto vor: „Wirtschaft für den Menschen“.

Was nicht weiter erstaunt, denn Goldschmidt, der auch auf eine in seinem Metier höchst seltene Kompetenz als Theologe verweisen kann, fühlt sich als Ökonom der katholischen Soziallehre und dem Ordoliberalismus eines Walter Eucken verpflichtet. Auf solchen Pfaden wandelnd, konnte dieser dezidiert historisch orientierte Wirtschaftswissenschaftler, in dessen Fach Traditionsvergessenheit ähnlich Trumpf ist wie in der Bundeswehr Ursula von der Leyens, einen einst prominenten Fachkollegen schwerlich umgehen. Die Rede ist von Hermann Schumacher, der vor 150 Jahren, am 6. März 1868 in Bremen geboren wurde.

Fundament ist Pluriversum einzelner Volkswirtschaften 

In die Weltwirtschaft und ihre Probleme ist Schumacher auf natürliche Weise hineingewachsen. Der Vater war Handelskammersyndikus, lange stationiert in Bogota und New York, wohin ihn die Familie begleitete. Gelebte Internationalität gehörte für den fest in seiner nationalen Kultur wurzelnden wilhelminischen Bürger, zumal für Hansestädter, zu den Selbstverständlichkeiten des Daseins. Für den jungen Schumacher galt dies in gesteigertem Maß. Kein anderer Ökonom seiner Generation verfügte über ähnlich große Auslandserfahrung. Die zudem seine wissenschaftliche Karriere befeuerte: Schon die Dissertation holte weit aus, beschäftigte sich mit dem US-Getreidehandel. Ohne Habilitation 1899 nach Kiel, von dort 1901 nach Köln und Bonn berufen, war Schumacher der beste Kandidat, um 1906/07 als erster deutscher Austauschprofessor an die Columbia-Universität zu gehen. Welche Spannweite seine Erforschung der ersten, 1914 endenden Globalisierung in dieser Zeit erreichte, belegen seine „Weltwirtschaftlichen Studien“ (1911), die von der Struktur des Fremdhandels in China, über deutsche Schiffahrtsinteressen in der Südsee bis zu „Wanderungen“ der Großindustrie reicht. 

Schumacher krönte seine Laufbahn 1917 als Berliner Nachfolger des „Kathedersozialisten“ Adolph Wagner. Doch ungeachtet der 251 Dissertationen, die er betreute, bildete er nie eine Schule. Dies habe, so glaubt Goldschmidt, die breite Rezeption dieses Weltökonomen nach 1945 genauso verhindert wie das Gerücht, er sei „nicht philosophisch genug“ gewesen, um „ein System zu bauen“. Lese man seine Texte indes genauer, werde ein immenser unterirdischer Einfluß offenbar. Den übte er durch ein Verständnis von Wirtschaft aus, das angesiedelt war jenseits der Planwirtschaft, die das Individuum unterdrückt, und des Liberalismus, der das Gesamtwohl ignoriert. Primär galt es, den barbarischen Naturzustand des kapitalistischen Marktes zu kultivieren, den homo oeconomicus zum homo culturalis zu erziehen. Weltwirtschaftlich hieß das, eine den Erdball umspannende Organisation zu etablieren, die das „freie Spiel der Marktkräfte“ vernünftigen Regeln unterwirft. Wozu gehört, daß Globalisierung ihr eigenes Fundament, das Pluriversum der Volkswirtschaften, nicht zerstören dürfe. 

Aufgehoben in Euckens Ordoliberalismus, öffentlich vermittelt überdies durch seinen Schüler Erich Welter, den Mitbegründer der FAZ, wirkten die Ideen des 1952 gestorbenen Gelehrten in der goldenen Nachkriegsära des westeuropäischen Sozialstaats fort. Und sie leben genauso weiter im Konzept der „Small is beautiful“-Ökonomik seines Sohnes Ernst Friedrich Schumacher, das in den wachstumskritischen siebziger Jahren auf starken Widerhall traf, wie in  Entwürfen zur „kulturellen Ökonomik“, mit denen Goldschmidt und wenige angelsächsische Theoretiker heute der disziplinären Dominanz des posthumanen Neoliberalismus trotzen.